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30.10.2023

Psyche: Probleme erkennen und ansprechen

30.10.2023
Hinschauen und darüber reden ist auch bei psychischen Problemen wichtig. Doch wie?
BU
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Reden ist Silber, Schweigen ist Gold? Bei psychischen Problemen sicher nicht. Aber auch überstürztes Handeln ist falsch, wenn wir als Erwachsene vom Teil des Problems zum Teil der Lösung werden wollen.

Von Beat Unternährer*

Kompakt
Durch das Zusammenwirken von altersgemäss anstehenden Entwicklungsaufgaben und zusätzlichen Schwierigkeiten in Familie, Ausbildung und Freizeit können bei Jugendlichen psychische Belastungen entstehen. Die Folgen dieser Belastungen können in Form von aggressivem, vermeidendem oder internalisierendem Verhalten auftreten. Der "präventive Dreisprung" aus der Suchtprävention - "Erkennen - Reflektieren - Handeln" - bietet einen Ansatz zur Identifizierung und Unterstützung betroffener Jugendlicher. Lehrkräfte und Betreuer sollten dabei eine fragende Haltung einnehmen, systematisch beobachten und die Beobachtungen gemeinsam reflektieren bevor sie handeln. So können sie den Jugendlichen effektive Unterstützung anbieten ohne sie vorschnell zu bewerten.

Während Jugendliche die letzten drei Jahre (inklusive Pandemie) körperlich relativ gut überstanden haben, wird immer deutlicher, dass ein Teil der 15- bis 25-Jährigen in der Schweiz psychisch stark unter den Folgen der Pandemie leidet. Laut der UNESCO Studie «Psychische Gesundheit von Jugendlichen zur Situation in der Schweiz und Liechtenstein»1 bewerten fast die Hälfte der Jugendlichen ihre psychische Gesundheit schlechter als vor der Pandemie!

In der Lebensphase der Adoleszenz befindet sich der junge Mensch in einer entwicklungspsychologisch sensiblen Phase. Es stellen sich neue, oft auch widersprüchliche Lebens- und     Entwicklungsaufgaben, die in die Zeit des Übergangs vom Jugendlichen zum Erwachsenen fallen:

  • Ablösung vom Elternhaus und Verselbständigung
  • Suche nach der eigenen Identität und Geschlechterrolle
  • Entwicklung eines eigenen Wertesystems
  • Berufswahl und Eintritt in das Erwachsenenleben
  • Entwicklung eigener Zukunftsperspektiven
Selbstwirksamkeit erleben Michel Gilgen
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Bilder zum Fokusthema "Psyche": Selbstwirksamkeit erleben. Zum Beispiel bei der Pflege des Bruders. Bilder: Michel Gilgen.

Diese Entwicklungsaufgaben verlangen von den Jugendlichen, dass sie ihre eigene (oft etwas chaotische) Innenwelt mit den Anforderungen und Möglichkeiten der (derzeit nicht weniger chaotischen) äußeren, sozialen und physischen Umwelt verbinden. Sie müssen sich für Zukunftsziele qualifizieren, Beziehungen zu neuen Menschen aufbauen, an der Umwelt teilhaben, sie erleben und mitgestalten.

Wenn Jugendliche bei der Bewältigung einer oder mehrerer dieser Aufgaben Schwierigkeiten haben oder gar scheitern, entsteht Druck. Dieser Entwicklungsdruck kann sich auf unterschiedliche Weise äußern und bemerkbar machen. Wenn wir aufmerksam und sensibilisiert sind, wird er von außen beobachtbar und signalisiert dem sozialen Umfeld, wenn Jugendliche Unterstützung benötigen.

Im Folgenden geht es darum

  • diese Anzeichen besser zu erkennen
  • zu entscheiden, wie wir damit umgehen wollen
  • Sicherheit darin zu gewinnen, die Jugendlichen auf unsere Beobachtungen anzusprechen.

Aus verschiedenen Quellen2 wissen wir, dass soziale Unterstützung und Kontakte wichtige Schutzfaktoren für eine positive Entwicklung von Kindern und Jugendlichen sind. Diese Unterstützung können wir den Adoleszenten mit einer fragenden Grundhaltung anbieten.

Ohne Unterstützung steigt die Gefahr, dass der Druck

  • sich in aggressivem Verhalten nach außen entlädt (externalisierend)
  • oder die Jugendlichen versuchen, sich in Flucht und Sucht zu betäuben (Vermeidung)
  • oder sie das Verhalten nach innen, gegen sich selbst richten (internalisierend).

Während die ersten beiden Möglichkeiten (externalisierendes und ausweichendes Verhalten) schneller auffallen, bemerkt und angesprochen werden, bleibt das internalisierende Verhalten oft lange unentdeckt und kann die Jugendlichen blockieren und in die Resignation treiben.

Selbstwirksamkeit erleben Michel Gilgen
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Plötzliche, vielleicht sogar heftige Veränderungen (Streit, Delinquenz, Sucht) sind besser beobachtbar, werden schneller bemerkt und haben entsprechende Auswirkungen. Schleichende Verschlechterungen des Wohlbefindens von Jugendlichen (Selbstzweifel, Resignation, Rückzug) sind dagegen nur durch wiederholte, gezielte Beobachtung erkennbar.

Der "präventive Dreisprung" aus der Suchtprävention «Erkennen - Reflektieren – Handeln» ist in weiten Teilen auch sehr gut auf psychische Belastungen bei Jugendlichen anwendbar. Dieser Ansatz wurde im Rahmen des Projektes Sensor von «akzent - Prävention und Suchttherapie» entwickelt. Auf der Homepage von akzent sind unter dem Stichwort Frühintervention verschiedene hilfreiche Broschüren abrufbar.3

Die Vernetzung mit Fachstellen und die Aus- und Weiterbildung von Personen im schulischen Kontext bilden die Grundlage für das Erkennen und planvolle Handeln in Problemsituationen. So werden Lehrpersonen durch klare Handlungspläne entlastet und geeignete Fachstellen können Schülerinnen, Schüler und Lernende und die unterschiedlichen Lernorte weiter unterstützen.

Erkennen

Die erste Frage, die oft gestellt wird, lautet: Handelt es sich nicht einfach um pubertäres Verhalten? Die Pubertät kann durchaus kurzfristig problematische Verhaltensweisen hervorbringen. Eine Gefährdung zeichnet sich jedoch dadurch aus, dass sie über einen längeren Zeitraum anhält und sich zunehmend verschlimmert. Um herauszufinden, worum es sich handelt, bedarf es eines detaillierten Beobachtungsplans mit klaren Zuständigkeiten und detaillierten Beobachtungskriterien, wie sie z. B. die Checkliste "Erkennen" in der Broschüre "Frühintervention in der Schule" von akzent bietet.3

Grundsätzlich kann gesagt werden, dass jede Veränderung ein Hinweis auf eine Belastung sein kann: Wenn zum Beispiel jemand häufiger zu spät zum Unterricht oder zur Arbeit kommt, kann die Ursache ein kranker Elternteil sein, der noch gepflegt werden muss bevor er das Haus verlässt.4 Aber auch unerwartete Leistungssteigerungen können z. B. ein Hinweis auf Einsamkeit sein, die durch vermehrtes Lernen überwunden werden soll.

Gut beobachtbare Veränderungen sind Auffälligkeiten

  • in konkreten Beschwerden der Jugendlichen selbst (Kopfschmerzen, Ängste, Einsamkeit)
  • im Aussehen (müde, ungepflegt, Verletzungen usw.)
  • im Verhalten (Unzuverlässigkeit, Fehlzeiten, Rückzug, Unruhe usw.)
  • in der Stimmung (ängstlich, aggressiv, überdreht, antriebslos)
  • im sozialen Umfeld (Ausgrenzung, wenige Freunde, Aggressivität)

Werden solche Beobachtungen systematisch über einen vereinbarten Zeitraum gesammelt (und als vertrauliche Daten auch sicher aufbewahrt!), können sie helfen zu beurteilen, ob und wie gehandelt werden muss. Das Spannende daran ist, dass bereits die systematische Beobachtung zu unerwarteten Veränderungen der Situation führen kann. Es lohnt sich, darauf zu achten. Denn selbst wenn die beobachtete Person nicht weiss, dass sie beobachtet wird, verändert die gezielte Beobachtung meine eigene Perspektive und vielleicht auch meine Haltung der Person gegenüber.

Selbstwirksamkeit erleben Michel Gilgen
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Reflektieren

Bevor gehandelt wird, sollten die gesammelten Beobachtungen in einer kleinen Gruppe in der Schule oder im Betrieb diskutiert, reflektiert und vernetzt werden. Dabei werden sowohl Auffälligkeiten als auch entdeckte Ressourcen zusammengetragen. Die soziale Situation der Schülerinnen und Schüler oder der Lernenden kann genauer beschrieben werden. Eine sehr wichtige Frage ist hier, ob bereits soziale Unterstützung in irgendeiner Form vorhanden und wirksam ist. Diese sollte zunächst gestärkt und gefördert werden.

Dann müssen sich die Beobachtenden selbst fragen, welche Rollen, Werte und Haltungen sie einnehmen wollen und können.

Als Ergebnis der Reflexion werden dann die Rahmenbedingungen festgelegt, die nächsten Schritte bestimmt, konkrete, messbare Ziele gesetzt (Wer? Was? Wann? Wie oft? etc.) und falls nötig klare Konsequenzen vereinbart.

Handeln

Erst jetzt wird gehandelt: Beobachtungen werden den Jugendlichen mitgeteilt (und eventuell auch dem Umfeld, vor allem den Eltern), vorhandene Ressourcen werden gestärkt, Unterstützungsangebote werden aufgezeigt, Ziele und Termine vereinbart und ebenfalls Konsequenzen mitgeteilt (bzw. gemeinsam mit den Jugendlichen erarbeitet).

Entscheidend bei all diesen Schritten ist, dass die beobachtenden Personen eine fragende Haltung einnehmen (im Gegensatz zu einer wissenden). Fragen wie «Könnte es sein, dass...?», «Liege ich mit meiner Beobachtung / Vermutung richtig, dass...?», «Können Sie mir das erklären? Ich verstehe Ihr Verhalten nicht» zeigen den Jugendlichen, dass sich jemand wirklich für sie und ihre Beweggründe interessiert und sie nicht vorschnell bewertet und kategorisiert. Ironie oder Zynismus sind in solchen fragenden Gesprächen pures Gift. Sie werden von den Jugendlichen schnell durchschaut und lassen die Kommunikation absterben.

In meinen Beratungen als Schulpsychologe in der nachobligatorischen Ausbildung (Sekundarstufe II) erlebe ich sehr oft, wie froh die Jugendlichen sind, wenn ihnen jemand aktiv zuhört5, wenn sie erst einmal von ihrer Situation erzählen können, ohne dass das Gegenüber sie (be-) urteilt oder «hilfreiche» Tipps gibt. Ich erlebe kaum Jugendliche, die nicht «einen guten Job» machen wollen. Sie wissen meist, was sie tun müssten - aber sie wissen nicht, wie sie es tun können, finden nicht den nötigen Antrieb dazu oder glauben, dass sie es sowieso nicht (mehr) schaffen.

Oft werde ich gefragt, ob es angemessen ist, sich als Lehrkraft oder Ausbilder in manchmal sehr persönliche Angelegenheiten «einzumischen». Aus systemischer Sicht antworte ich dann gerne: «Sie sind längst Teil der Situation und können sich in diesem Sinne gar nicht einmischen. Im besten Fall können Sie Teil der Lösung werden. Das setzt voraus, dass Sie bereit sind, auch bei sich selbst hilfreiche Veränderungsmöglichkeiten zu finden».

Bezugspersonen in Schule, Ausbildung und Freizeit können nichts falsch machen, wenn sie Jugendliche und junge Erwachsene einfach fragen, ob sie ihnen einige Beobachtungen mitteilen und/oder Fragen stellen dürfen: «Darf ich dich etwas Persönliches fragen?» oder «Darf ich Ihnen eine Rückmeldung zu Ihrem Verhalten in den letzten Wochen geben?». Nur wenige Lernende antworten darauf mit einem klaren Nein, sondern sind neugierig, was wir von ihnen erfahren wollen.

Selbstwirksamkeit erleben Michel Gilgen
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Wenn sich Lernende unangemessen verhalten, lohnt es sich, dieses Verhalten

  • nicht als Angriff auf die eigene Person, sondern als
  • bestmöglichen Lösungsversuch in einer Situation aus der Sicht des Jugendlichen zu sehen.

Darüber hinaus müssen wir uns bewusst machen, dass der Zeithorizont jugendlichen Verhaltens und jugendlicher Entscheidungen deutlich kürzer ist, als wir es aus dem Erwachsenenleben gewohnt sind. Dass Jugendliche oft «nicht weiter als bis zur Nasenspitze» denken, liegt daran, dass sie genau diese Planungsfähigkeit und Weitsicht erst noch einüben müssen.

Beispiel: Aggressives oder freches (Antwort-)Verhalten von Schülerinnen und Schülern führt oft dazu, dass sich das Gegenüber (Eltern, Lehrperson etc.) zunächst brüskiert zurückzieht. Damit hat der/die Jugendliche sein/ihr erstes, kurzfristiges Ziel schnell erreicht: «Lasst mich alle in Ruhe!!!» Wenn ich aber dranbleibe und freundlich nachfrage, durchbreche ich diesen Kreislauf und die Jugendlichen sind vielleicht zu einem weiteren Gespräch bereit - oder merken zumindest, dass sie so nicht weiterkommen.

Wenn wir problematisches Verhalten von Jugendlichen und jungen Erwachsenen als Missachtung, Unverschämtheit und persönliche Beleidigung empfinden, reagieren wir oft genau nach demselben Muster, welches dieses Verhalten hervorgebracht hat. Damit sind wir Teil des Problemkreislaufs. Eine professionell zugewandte, klare Haltung kann helfen, diese Muster zu erkennen und durch angemessenere Verhaltensmuster zu ersetzen (Nachfragen: «Meinst du das so, wie ich es verstanden habe?»). Auf diese Weise können wir Teil der Lösung werden.

Selbstwirksamkeit erleben Michel Gilgen
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*Zum Autor: Beat Unternährer arbeitet in einem 70%-Pensum als Schulpsychologe beim Schulpsychologischen Dienst des Kantons Zug und ist für alle nachobligatorischen Schulen im Kanton zuständig.


Quellen

Weitere Informationen

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