Schule digital: Wie gelingt gerechter Wandel?

Ken Horvath* von der PH Zürich im Interview zur Herausforderung, wie ein gerechter digitaler Wandel an Schweizer Primarschulen gelingen kann. Inklusive Austauschmöglichkeit für interessierte Lehrpersonen und Schulen.
Zwischen Schulerfolg und Herkunft besteht ein enger Zusammenhang. Verschärft oder lindert die Digitalisierung der Schule das Problem?
Die digitale Transformation kann sowohl lindernd als auch verschärfend wirken – entscheidend ist die Gestaltung digitaler Lernumgebungen und der reflektierte Umgang mit ihnen. Digitale Tools bieten das Potenzial, individualisiertes Lernen zu fördern und Kindern so neue Zugänge zu ihrem eigenen Lernen zu schaffen. Die Digitalisierung bringt aber nicht nur neue Tools – sie verändert grundlegend, was Kinder lernen müssen und wie sie lernen. Neben technischen Fertigkeiten werden auch vielfältige soziale, kommunikative und kognitive Kompetenzen wichtiger. Der Umgang mit Wissen verändert sich und die Grenzen zwischen schulischem und außerschulischem Lernen verschwimmen, wodurch familiäre Ressourcen stärker ins Gewicht fallen können. So können digitale Medien bestehende Ungleichheiten nicht nur fortschreiben, sondern unter Umständen sogar verstärken. Die Digitalisierung ist zudem ein „Moving Target“ – der technologische Wandel erfolgt so rasch, dass wir ständig neuen Fragen und Problemen nachgehen müssen. Es zeichnen sich also Herausforderungen ab, denen wir in beispielsweise aktuell im Forschungsverbund DEEP mit Fokus auf den Schweizer Primarschulbereich nachgehen.
Wo liegen die Chancen?
Digitale Bildung eröffnet vielfältige Chancen für mehr Bildungsgerechtigkeit: Lernplattformen können individualisiertes Lernen im eigenen Tempo ermöglichen und adaptives Feedback geben – wenn sie die damit einhergehenden Risiken angemessen berücksichtigen. Zum Beispiel stellt sich mit Blick auf Differenzierungsstrategien im Unterricht die Frage, wie digitale Hilfsmittel eingesetzt werden können, um unterschiedliche Lernvoraussetzungen auszugleichen. Zudem bieten digitale Werkzeuge z. B. die Chance, selbstreguliertes Lernen zu erleichtern – und damit eine Schlüsselkompetenz für lebenslanges Lernen zu stärken, die soziale Ungleichheiten abmildern kann.
Wo die Gefahren?
Die Risiken liegen auf mehreren Ebenen: Erstens kann ungleicher Zugang zu Technologie und digitalen Lernressourcen – sowohl in der Schule als auch zu Hause – neue Barrieren schaffen. Zweitens besteht die Gefahr algorithmischer Verzerrungen, wenn KI-gestützte Lernprogramme oder Beurteilungssysteme soziale Ungleichheiten reproduzieren oder verstärken. Drittens erfordert der kompetente Umgang mit digitalen Medien neue Kompetenzen (etwa im Bereich der Selbstregulation), die sozial ungleich verteilt sind – wer beispielsweise mit dem Ablenkungspotential digitaler Medien nicht umgehen kann, ist im Nachteil. Schließlich besteht das Risiko, dass durch die digitale Verzahnung von Schul- und Freizeitwelten bestehende Bildungsungleichheiten aufgrund sozialer Herkunft verstärkt werden.
Sie haben das Projekt DEEP erwähnt. Können Sie einige konkrete Forschungsfragen nennen?
DEEP ist ein gemeinsames Vorhaben von sieben Schweizer Hochschulen, das von der EPFL und der PH Zürich koordiniert und von der Jacobs Stiftung unterstützt wird. DEEP untersucht zentrale Aspekte der digitalen Transformation in Schweizer Primarschulen. Konkrete Forschungsfragen aus unseren Projekten sind: Wie können Lehrpersonen digitale Hilfsmittel für eine differenzierte Förderung aller Schülerinnen und Schüler einsetzen, unabhängig von deren Hintergrund? Dies untersucht das Projekt "Differentiated Instruction" in Zusammenarbeit mit Primarschulen. Das Projekt "DEEP-Scafalle" untersucht, wie digitale Systeme gestaltet werden müssen, um im MINT-Bereich Unterstützung bei unterschiedlichen Lernbedarfen zu geben. Das Projekt "DEEP-Professionalization" wiederum erforscht, wie wir Weiterbildung denken und gestalten sollten, um Lehrpersonen zu einem kompetenten, selbstbewussten und effektiven Umgang mit digitalen Medien zu befähigen. Allen Projekten gemeinsam ist die Frage, wie die digitale Transformation so gestaltet werden kann, dass sie Bildungschancen verbessert, statt neue Ungleichheiten zu schaffen.
Gibt es erste Erkenntnisse?
Die Forschungsarbeit in DEEP hat erst vor einigen Monaten begonnen, daher können wir noch keine abgesicherten Ergebnisse präsentieren. Dennoch zeichnen sich bereits wertvolle Einsichten ab: Die Zusammenarbeit über Regionen, Hochschultypen und Disziplinen hinweg hilft uns zum Beispiel, wichtige Forschungslücken zu identifizieren. Ein Beispiel für eine solche problematische Leerstelle: Die Verbindung von digitalen Bildungstechnologien und sonderpädagogischer Förderung werden bislang kaum erforscht – das Potenzial zur digital gestützten Förderung von Kindern mit „Special Needs“ ist damit aktuell noch nicht voll genutzt, und die Risiken, die damit einhergehen, sind weitgehend unbekannt. Auch zeigt sich der dringende Bedarf, Angebote für die Praxis zu entwickeln, die flexibel an verschiedene Ausgangssituationen angepasst werden können. DEEP verbindet dabei praxisnahe Forschung mit wissenschaftlicher Innovation, die sich aus der Verbindung von Forschungsperspektiven ergibt, die bislang wenig Bezug aufeinander genommen haben.
Forschung und Auswertung werden noch einige Zeit in Anspruch nehmen. Was soll die Schulpraxis bis dahin tun?
Schulen müssen nicht warten, bis alle Forschungsergebnisse vorliegen – der Austausch mit DEEP kann bereits jetzt gewinnbringend sein. Konkret bieten wir mehrere Möglichkeiten zur Zusammenarbeit: Schulen können als Praxispartner an Forschungsprojekten teilnehmen und dabei von direktem Austausch mit Forschenden profitieren. Lehrpersonen können an Workshops teilnehmen, die wir zu Themen aus unserer Forschung anbieten werden – mit dem Ziel, gemeinsam an Ressourcen für die Praxis zu arbeiten. Interessierte Schulen oder Lehrpersonen können über unsere Website (deep-consortium.ch) oder direkt per E-Mail (info@deep-consortium.ch) Kontakt aufnehmen. Wir freuen uns über den Dialog mit der Praxis – denn nur so entsteht wirklich anwendungsrelevantes Wissen für einen gerechten digitalen Wandel in Schweizer Primarschulen.
*Prof. Dr. Kenneth Horvath leitet die Abteilung Bildungswissenschaftliche Forschung an der Pädagogischen Hochschule Zürich. In dieser Rolle koordiniert er unter anderem gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen der EPFL und der PH Zürich den Forschungsverbund DEEP (Digital Education for Equity in Primary Schools). Der Forschungsverbund DEEP erforscht, wie ein gerechter digitaler Wandel an Schweizer Primarschulen gelingen kann. Das Ziel besteht darin, die gewonnenen Erkenntnisse nachhaltig in die Schweizer Bildungslandschaft zu integrieren. Kontakt DEEP: siehe oben.