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11.01.2023

Sexualität und Schule: Entwicklung

11.01.2023
Über die psychosexuelle Entwicklung
SH
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Sexualität als lebenslanger Lernprozess – über die psychosexuelle Entwicklung von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen.

Von Simone Haug*

Unsere Entwicklung zu einem sexuellen Wesen beginnt mit der Zeugung und der Festlegung des chromosomalen Geschlechts. Auch die Bildung der Geschlechtsorgane, in der etwa achten Schwangerschaftswoche, markiert einen wichtigen Meilenstein. Ist der kleine Mensch erst einmal auf der Welt, nimmt sein Umfeld bewusst oder unbewusst einen grossen Einfluss auf seine psychosexuelle Entwicklung. So lernt das Kleinkind beispielsweise durch die liebevolle, elterliche Fürsorge, dass sein Körper etwas Wertvolles ist. Der Umgang der Eltern mit Nacktheit prägt das Kind bezüglich seines eigenen nackten Körpers. Und je klarer Körperteile, insbesondere auch Geschlechtsmerkmale, benannt werden, desto besser lernt das Kind seinen eigenen Körper kennen. Eine verlässliche und zugewandte Eltern-Kind-Beziehung unterstützt die Beziehungsfähigkeit des Kindes, welche oft lebenslang Auswirkungen auf die spätere Bindungsfähigkeit hat.

Im Vorschulalter lernt das Kind durch das Nachspielen von Alltagssituationen verschiedene Rollenmuster kennen und entdeckt zum Beispiel in Doktorspielen die biologischen Körperunterschiede zwischen sich und anderen. Kinder erforschen ihre eigenen Bedürfnisse und versuchen, ihren Willen durchzusetzen, mal mit Gebrüll, mal mit einem unwiderstehlichen Augenaufschlag. Sie entwickeln ein Schamgefühl, üben „Nein“ zu sagen und signalisieren damit ihre persönlichen Grenzen. Die Erfahrung, dass ein Gegenüber dieses „Nein“ akzeptiert, ist wichtig, damit das Kind lernt, dass seine Grenzziehung eine Bedeutung hat. All diese psychosexuellen Entwicklungsschritte haben auch einen präventiven Charakter. Je früher ein Kind sich und seinen Körper kennen und schätzen lernt, desto eher und erfolgreicher kann es sich vor Grenzverletzungen schützen.

Sexualität und Schule, Foto Michel Gilgen
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Die physiologischen Voraussetzungen für die spätere Paarsexualität, Organe und Nervenzellen, sind beim Kind bereits vorhanden. Sie lernen durch das Spüren von Körperempfindungen den eigenen Körper und auch die Geschlechtsorgane kennen. Selbsterkundung und auch Selbstbefriedigung werden vor allem bei Kindern mit Penis schon im Kleinkindalter beobachtet. Diese spielen mit ihrem Penis und geniessen das Anschwellen und die damit verbundenen Gefühle. Oft müssen sie lernen, dafür einen geeigneten Ort zu finden. Auch Kinder mit Vulva oder Klitoris stellen im Verlauf ihrer Entwicklung fest, dass es angenehme Gefühle auslöst, wenn sie ihr Geschlecht berühren oder ihre Geschlechtsteile an einem Kissen reiben. Kinder kennen das Gefühl genitaler Erregung, gehen unbefangen damit um, verbinden dieses mit Entspannung und erleben dabei ihren Körper mit allen Sinnen. Bereits in Kleinkindalter nutzen einige Kinder genitale Erregung und die anschliessende Entspannung als bewährte Strategie, um Stress und Druck abzubauen. Dieses Verhalten wird kindliche Sexualität genannt und ist nicht vergleichbar mit dem, was Erwachsene in der Sexualität suchen. Für eine finnische Studie beobachteten Tagespflegefachpersonen das Verhalten und die Aussagen von ein- bis sechsjährigen Kindern in Bezug auf kindliche Sexualität. Nahezu alle Mitarbeitenden beobachteten im Alltag Kinder beim Entdecken ihrer Geschlechtsteile oder kleinen „Liebeshandlungen“ wie Umarmungen und Küssen. Weit mehr als die Hälfte gab an, Kinder bei Masturbationshandlungen gesehen zu haben (Cacciatore et al. 2018). 

Mit dem Eintritt in den Kindergarten kommen die Kinder in ein pädagogisches Umfeld, in dem klare Strukturen das Zusammenleben regeln. Neue Bezugspersonen treten in ihr Leben, die Peer-Gruppe gewinnt an Bedeutung. Es ist ein Schritt im Loslösungsprozess von den Eltern. Die Kinder lernen ihre eigenen Fähigkeiten im Vergleich zu anderen kennen und beginnen, ihre Talente zu präsentieren. Sie gehen Freundschaften ein, lösen diese wieder auf und machen dabei Nähe- und Distanzerfahrungen. Sie verlieben sich und schmieden Heiratspläne (wer erinnert sich nicht an seine*ihre erste Liebe?). Sie setzen ihren Körper im Sport, im Singen oder im Tanzen gezielt ein. Es gilt, sich an Regeln zu halten, fair miteinander umzugehen und auch Frust auszuhalten. Alle diese Fähigkeiten sind nicht nur wichtig fürs Leben im Allgemeinen, sondern insbesondere auch für die spätere Paarsexualität.

Sexualität und Schule, Foto Michel Gilgen
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Mit dem Primarschulalter beginnt die sogenannte Latenzphase. In dieser Zeit fühlen sich Kinder sehr stark ihrer eigenen Geschlechtsgruppe zugehörig. Kinder des anderen Geschlechts sind  „doof“ oder „stinken“. Innerhalb inniger Freundschaften kann es zu ersten gleichgeschlechtlichen Körpererfahrungen kommen, was aber meist noch nichts über die sexuelle Orientierung einer Person aussagt. Kinder haben in dieser Phase bereits ein gutes Sensorium dafür, welche Themen sie gegenüber Erwachsenen ansprechen können und welche nicht. Insbesondere Ausdrücke mit sexueller Bedeutung werden entweder zur gezielten Provokation genutzt oder bewusst vermieden. Kinder merken schnell, welche Themen und Wörter bei den erwachsenen Bezugspersonen starke Reaktionen auslösen. 

Die anschliessende Pubertät ist geprägt von ersten Malen. Nebst ersten Verliebtheitsgefühlen, die vielleicht auch zu ersten ernsthaften Beziehungen führen, erleben viele Jugendliche in der Pubertät erste körperliche Annäherungen an das bevorzugte Geschlecht. Es wachsen erste Haare an Körperstellen, wo es vorher keine gab, und der Körper verändert sich in Grösse, Form und Proportionen. Die erste Menstruation erfordert die Anwendung von Hygieneartikeln unter «Ernstfallbedingungen». Der erste Samenerguss passiert, ein Ereignis, auf das die betroffenen Kinder oft nicht vorbereitet sind. Und nicht zu vergessen die ersten Küsse, das erste Knutschen und dann mit 16, 7  Jahren (Medianwert) der erste heterosexuelle Geschlechtsverkehr (Barrense – Dias et al. 2018).

Sexualität und Schule, Foto Michel Gilgen
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Informationen zu diesen wichtigen Themen erhalten Jugendliche auf verschiedenen Wegen: durch Freunde (39 %), von den Eltern (27 %), im Schulunterricht (19 %) und aus dem Internet (8 %). Bei 4 % der Jugendlichen fehlt der Zugang zu Informationen gänzlich (Barrense-Dias et al. 2019). Die genannten Informationsquellen haben laut der Studie einen Einfluss auf das Sexualverhalten. Jugendliche, die Gleichaltrige als Informationsquelle nutzen, zeigen ein riskanteres Sexualverhalten mit mehr unterschiedlichen Sexualpartnern als diejenigen, die durch Eltern und Schule aufgeklärt wurden (Barrense-Dias et al, 2019).

Viele Menschen denken, dass die psychosexuelle Entwicklung nach der Pubertät abgeschlossen ist. Doch weit gefehlt: Das Eingehen von stabilen Langzeitbeziehungen, das Erleben von hormoneller Verhütung und ihr Einfluss auf die Person, Schwangerschaften und Kinderkriegen, das Ertragen von Lustlosigkeit und anderen Grenzen der Sexualität, die Überwindung dieser Grenzen mit oder ohne Hilfe von aussen oder die Veränderungen des eigenen Körpers durchs Älterwerden sind weitere mögliche Schritte, die Menschen in der Entwicklung ihrer Sexualität durchleben. Wir sind bis ins hohe Alter fähig, unsere Sexualität zu verändern und unseren Körper neu und anders einzusetzen und wahrzunehmen. Sexualität ist ein lebenslanger Lernprozess.


* Simone Haug ist Pflegefachfrau DNII, Sozialarbeiterin BA und Sexologin MA. Sie arbeitet als Sexualpädagogin und Sexualberaterin bei eff-zett das fachzentrum in Zug und in ihrer eigenen Praxis für Sexualberatung am Spital Limmattal. Sie doziert zum Thema Sexualpädagogik und Sexualität unter anderem an der Pädagogischen Hochschule Zug und am Zentrum für Ausbildungen im Gesundheitswesen in Winterthur.


Quellen und weiterführende Literatur

Kinderschutz Schweiz: Broschüre Sexualerziehung bei Kleinkindern und Prävention von sexueller Gewalt.

John Bowlby:  „Bindung als sichere Basis, Grundlagen und Anwendung der Bindungstheorie“ erschienen bei Ernst Reinhardt Verlag

Stadien der psychosexuellen Entwicklung des Kindes nach Freud in Berk Laura: „Entwicklungspsychologie“ erschienen bei Pearson Studium  

Maywald Jörg: „Sexualpädagogik in der Kita“ erschienen bei Herder Verlag

Schütz Esther Elisabeth und Kimmich Theo „Körper und Sexualität“ erschienen bei Atlantis Verlag

Bienia Oliver und Kägi Silvia «Kindliche Sexualität in Kindertageseinrichtungen»  erschienen bei Beltz Juventa

 

Zitierte Studien

Barrense-Dias Y, Akre C, Berchtold A, Leeners B, Morselli D, Suris J-C. Sexual health and behavior of young people in Switzerland. Lausanne, Institut universitaire de médecine sociale et préventive, 2018 (Raisons de santé 291). Link: http://dx.doi.org/10.16908/issn.1660-7104/291

Cacciatore, R.SM., Ingman-Friberg, S.ML., Lainiala, L.P. et al. Verbal and Behavioral Expressions of Child Sexuality Among 1–6-Year-Olds as Observed by Daycare Professionals in Finland. Arch Sex Behav 49, 2725–2734 (2020). Link: https://doi.org/10.1007/s10508-020-01694-y

Yara Barrense-Dias, Christina Akre, Joan-Carles Surís, André Berchtold, Davide Morselli, Caroline Jacot-Descombes & Brigitte Leeners (2020) Does the Primary Resource of Sex Education Matter? A Swiss National Study, The Journal of Sex Research, 57:2, 166-176, DOI: 10.1080/00224499.2019.1626331.

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