Navigieren auf Schulinfo Zug

Inhaltsnavigation auf dieser Seite

Navigation
  • Fokus
  • Sexualität und Schule: Interview ohne Tabu
12.06.2023

Sexualität und Schule: Interview ohne Tabu

12.06.2023
Interview mit Ledwina Siegrist.
LS
Bild Legende:

Wie wird Sexualkunde im Unterricht behandelt? Wo geht's im Lehrplan 21 um Sexualität? Und wie umgehen mit der Lust im Schulzimmer?

Ledwina Siegrist* beantwortet Fragen rund um das Thema Sexualkunde in der Schule. Beachten Sie am Ende des Interviews bitte auch den Hinweis auf ein CAS zum Thema.

Wo geht es um Sexualität im Lehrplan 21?
Die Kompetenzen müssen etwas zusammengesucht werden: Das Fach "Natur und Technik: NT.7 Körperfunktion verstehen" und das Fach "Lebenskunde - Ethik, Religionen, Gemeinschaft: ERG.5 Ich und die Gemeinschaft – Leben und Zusammenleben gestalten", sowie das Fach "Medien und Informatik: MI.1 und MI.2 sich in virtuellen Lebenswelten orientieren können, Medien(-beiträge) entschlüsseln und nutzen können", bilden zusammen Kompetenzbereiche für den sexualkundlichen Unterricht. Mit dem Lehrplan 21 wird empfohlen, die Themen auch kompetenzübergreifend zu behandeln.

Frage1.1
Bild Legende:
Bsp. aus dem NT.7: Körperfunktionen verstehen. NT.7.3: Die Schülerinnen und Schüler verfügen über ein altersgemässes Grundwissen über die menschliche Fortpflanzung, sexuell übertragbare Krankheiten und Möglichkeiten zur Verhütung.
Frage1.2
Bild Legende:
Bsp. aus dem ERG.5: Ich und die Gemeinschaft – Leben und Zusammenleben gestalten. ERG.5.3: Die Schülerinnen und Schüler können Beziehungen, Liebe und Sexualität reflektieren und ihre Verantwortung einschätzen.

Welche Frage hören Sie aus der Praxis am meisten?
Die Themen sexualisierte Gewalt als auch Sexualität und digitale Medien beschäftigen Schulleitungen, Sexualpädagoginnen und Sexualpädagogen, Schulsozialarbeiterinnen sowie -arbeiter und weitere Fachpersonen. Mit der zunehmenden Bedeutung des Internets als Aufklärungs-, Wissens- und Unterhaltungsquelle sind viele Chancen, aber auch Risiken verbunden. Dies stellt Fachpersonen vor neue Herausforderungen. Sexting, Cybergrooming, Hate Speech, Sextortion, Romance Scam oder Pornosucht sind brennende Themen.

Laut der JAMES-Studie von 2022 haben 47 % der Jugendlichen zwischen 12 und 19 Jahren schon mal erlebt, dass sie im Internet von einer fremden Person mit unerwünschten sexuellen Absichten kontaktiert wurden. Einerseits bedeutet dies ein starker Anstieg im Zeitvergleich, denn bei der Befragung von 2014 waren es noch 19 % gewesen. Andererseits sind bereits bei den jüngsten Befragten, den 12-/13-Jährigen, bereits 1/5 betroffen. Daher erhalte auch ich vermehrt Fragen zum Umgang und der Prävention von sexualisierter Gewalt bei Kindern und Jugendlichen.

Ende 2022 hat die Sexualaufklärungsbroschüre «Hey You» für einigen Wirbel gesorgt. Nach eigener Auskunft ist die Broschüre für Menschen ab 12 Jahren geeignet. Wie beurteilen Sie die Broschüre als Expertin?
Die Berner Staatsanwaltschaft hat der Klage gegen die Broschüre «Hey You» keine Folge gegeben, wie wir seit März 2023 wissen. Die Stellungnahme lässt an Klarheit nichts zu wünschen übrig und stärkt damit die ganzheitliche Sexualaufklärung: alters- und entwicklungsgerecht und auf den sexuellen Rechten beruhend. Die Aufklärungsbroschüre «Hey You» richtet sich an Jugendliche ab zwölf Jahren und ist aus meiner Perspektive absolut altersadäquat aufgebaut. In neun Kapiteln werden sachliche Informationen über die Themen Liebe, Sex, Verhütung und mehr vermittelt.

hslu2
Bild Legende:

Bei der Lektüre ist mir aufgefallen, dass dem gefühlten Geschlecht einigen Platz eingeräumt wird. Wird die Sexualaufklärung zurzeit nicht fast ein wenig von der Genderdebatte gekapert?
Der Lehrplan 21 beschreibt explizit die Kompetenzen (…) «Schülerinnen und Schüler kennen ihre Rechte im Umgang mit Sexualität und respektieren die Rechte anderer.» (…) und weiter (…) «verbinden Sexualität mit Partnerschaft, Liebe, Respekt, Gleichwertigkeit und Gleichberechtigung und können sexuelle Orientierungen nichtdiskriminierend benennen» (…).

Es werden fast drei Hate Crimes pro Woche gemeldet – und die Dunkelziffer ist riesig. Im letzten Jahr wurden gegenüber dem Vorjahr fast 50 % mehr körperliche und verbale Angriffe auf queere Menschen gemeldet. Betroffen sind vor allem junge Menschen und zunehmend Transpersonen, wie der neuste Hate-Crime-Bericht der queeren Dachorganisationen Pink Cross, der Lesbenorganisation LOS und des Transgender Network Schweiz zeigt.

Die Schule hat den gesellschaftlichen Auftrag, Schülerinnen und Schüler für dieses Thema zu sensibilisieren. Solange Gewalt gegen LGBTIQ-Menschen in der Schweiz weiterhin eine Realität ist, muss auch dem gefühlten Geschlecht (Gender) seinen Platz eingeräumt werden.

Der Lernstoff der Volksschule muss eine gewisse Konsenorientierung haben. Wie gelingt der schulischen Sexualaufklärung die Gratwanderung zwischen den gesellschaftlichen Werten?
Aktuell wird wieder eine nationale anti-gender Kampagne geführt. Die Rechten schrecken vor wenig zurück – und kommen damit viel zu weit. Konservative und rechte Politikerinnen und Politiker schiessen momentan wieder vermehrt gegen alles, was die vielfältige Gesellschaft repräsentiert, insbesondere gegen trans Menschen. Dies kann leider in einen neuen Kulturkampf der globalen Rechten eingereiht werden.

Kinder werden im Aufklärungsunterricht weder «indoktriniert» noch als Waffen gegen die traditionelle Familie eingesetzt. Wie im Lehrplan 21 umschrieben wird, leistet das Thema (…) «einen Beitrag zur Umsetzung der rechtlichen und tatsächlichen Gleichstellung der Geschlechter in Familie, Ausbildung und Arbeit. Die Schülerinnen und Schüler setzen sich dabei mit Geschlechterrollen, Stereotypen, Vorurteilen und Klischees im Alltag und in der Arbeitswelt auseinander.»

In der schulischen Sexualaufklärung werden verschiedene Meinungen und Werte diskutiert. Es gibt aber Formen von Übergriffen und Gewalt, die in demokratischen Gesellschaften nicht geduldet werden dürfen und dies muss unbedingt klar markiert werden.

Warum ist das wichtig?
Unsere Schweizer Demokratie lebt vom respektvollen Umgang der Menschen miteinander. Diskriminierung und Hetze gefährden das friedliche Zusammenleben und haben in einer freiheitlichen und toleranten Gesellschaft keinen Platz. 
Vor einigen Wochen wollten zum Beispiel rechtspopulistische Kreise eine Lesung für Kinder, welche Dragqueens angeboten hatten, verhindern, so dass es Polizeischutz dafür brauchte.
Nach dem Vorbild der in Florida erfolgreichen republikanischen Anti-Gay- und Anti-Gender-Agenda, bei der sogar Kinderbücher aus Bibliotheken verbannt werden, handeln hierzulande konservative Kreise. Damit verbreiten sie eine realitätsfremde und anti-demokratische Weltsicht, die unsere demokratischen Werte gefährdet. 

Was muss ich als Lehrperson eigentlich machen, wenn Eltern ihr Kind vom Aufklärungsunterricht in der Schule abmelden wollen?
Es ist Sache der Kantone, ob die Möglichkeit der Dispensation möglich ist. Wichtig ist, dass die Schulleitung das Gespräch mit den Eltern sucht. Eltern sollen sachlich und transparent über die Wichtigkeit von Sexualaufklärung informiert werden.1
Als Schulleitung empfiehlt es sich, die Besorgnisse der Eltern ernst zu nehmen und auf die Gründe einzugehen, die ihrer Meinung nach gegen schulische Sexualaufklärung in der Schule sprechen.

Lehrer werden von Schülerinnen sexuell erregt und Schüler von Lehrerinnen. Sicher auch umgekehrt und auf viele Arten. Inwiefern ist die sexuelle Lust Gegenstand der heutigen Lehrpersonenbildung?
Ich unterrichte angehende Klassenlehrpersonen der Sekundarstufe I an der PH-Luzern in Sexualpädagogik. In meinem Unterricht findet dieses Thema seinen Platz. Wir gehen Merkmale und Situationen durch, thematisieren was daran problematisch ist, was eine Verschiebung der Nähe-Distanz-Regelung für Auswirkungen aus berufsethischen und rechtlichen Blickwinkeln haben kann. Wir üben den Umgang mit Grenzverschiebungen anhand von konkreten Fallbeispielen.

Wie sollte vor dem Hintergrund fachlicher Überlegungen idealerweise das Verhältnis zwischen Schülerinnen, Schülern und der Lehrperson aussehen?
Wichtig sind geklärte Beziehungen und Rollen. Lehrpersonen müssen eine professionelle Distanz zu den Schülerinnen und Schülern wahren, ein Bewusstsein über innere Abhängigkeiten und einen verantwortungsvollen Umgang mit übertragenen Gefühlen der Schülerinnen und Schüler haben.

hslu1
Bild Legende:

«CAS Sexualpädagogik in der Arbeit mit Kindern und Jugendlichen. Sexuelle Sozialisierung entwicklungsadäquat begleiten»

Das CAS-Programm vermittelt die notwendigen Kompetenzen professionellen Handelns in der alters- und situationsadäquaten Thematisierung sexualpädagogischer Themen. Dabei wird der Organisationskontext berücksichtigt. 

Ziel des CAS-Programm ist es, Kinder und Jugendliche entwicklungsadäquat in ihrer sexuellen Sozialisation zu begleiten und entsprechend lernförderliche Bildungsprozesse zu Sexualität und Beziehung situativ wie auch geplant anzubieten. Dabei werden die notwendigen Kompetenzen professionellen Handelns in der Thematisierung sexualpädagogischer Themen erworben.

Infoveranstaltungen: Dienstag, 20. Juni 2023, Dienstag, 12. September 2023

Nächster Programmstart: 21.03.2024

Dauer 8 Monate

Mehr Informationen zum CAS unter diesem Link.

1 «Redaktioneller Hinweis auf die gesetzliche Regelung im Kanton Zug:

Schulischer Sexualkundeunterricht berührt die Grundrechte der Schulkinder und Eltern. Es handelt sich jedoch um einen leichten Grundrechtseingriff. Dieser ist gerechtfertigt, weil der schulische Sexualkundeunterricht - soweit er sich an die im Lehrplan umschriebenen inhaltlichen Vorgaben hält - auf einer ausreichenden gesetzlichen Grundlage (§14 SchulG; BGS 412.11) beruht, im öffentlichen Interesse erfolgt und verhältnismässig ist. Die obligatorische Teilnahme am schulischen Sexualkundeunterricht verstösst nicht gegen übergeordnetes Verfassungsrecht (§ 4 Abs. 1 der Verfassung des Kantons Zug BGS 111.1). Die im Lehrplan festgehaltenen Kompetenzen und Kompetenzbereiche sind für die zugerischen Schulen verbindlich. Kinder und Jugendliche haben ein Recht auf schulischen Sexualkundeunterricht. Die Umsetzung kann auf verschiedene Arten geschehen, daher der Verweis auf die Verhältnismässigkeit. Im Bereich des Sexualkundeunterrichts ist der vorausschauende Austausch mit Eltern und Fachpersonen erfolgsversprechend und daher sehr empfohlen.»


*Ledwina Siegrist ist Dozentin und Projektleiterin mit Schwerpunkt sexuelle Gesundheit am Institut für Sozialpädagogik und Bildung (ISB) der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit. Sie hat Gender-Studies und Erziehungswissenschaften an der Universität Basel studiert.

Weitere Informationen

hidden placeholder

behoerden

Fusszeile