Ein Streifzug durch die Zuger Volksschulen
Im Fokus die Frage nach dem zukunftstauglichen Spirit.
Keine wissenschaftliche Abhandlung soll es sein. Nach 25 Jahren im Bildungsrat. Diese würde wohl auch nicht gelesen. Meinte Generalsekretär Lukas Fürrer. Knapp drei Wochen vor Abgabeschluss. Naheliegend wäre etwas zur Entwicklung der Bildungslandschaft der letzten 25 Jahre, regte er an. Quasi persönliche «Inseln» im Sinne einer Carte blanche, fügte er noch hinzu. Wohl sicherheitshalber gab er mir fünf Stichworte (1) Gute Schulen, (2) Integration, (3) Lehrplan 21, (4) Betreuung und (5) Leistung mit auf den Weg.
Ein klassisches Dilemma, dachte ich. Eine Carte blanche zu erhalten und zu wissen, dass jedes Kind sein eigenes beschriebenes Blatt mitbringt. Und auf die Vorurteilslosigkeit der Lehrpersonen baut und auf Chancengerechtigkeit hofft. One size doesn’t fit all.
Ich machte mich also auf den Weg in Schulen und sprach mit Lehrpersonen und Verantwortlichen in der Schulleitung. So wie ich es immer tat. Interessiert-fragend und zuhörend. Um meine Erfahrungen und Reflexionen auf deren Alltagstauglichkeit im Klassenzimmer und in der Schule zu überprüfen. Alltagstauglichkeit? Geht es nicht um Zukunftstauglichkeit, dachte ich.
Im Gepäck hatte ich Fragen, die mich immer beschäftigten. Auch im Bildungsrat. Seit 2019 auch beim Aufbau einer Schule im Norden Mumbais[1]. Bei den Fragen ging es um den zukunftstauglichen Spirit der öffentlichen Schule. Dies in einer Zeit, wo verlässliche gesellschaftliche Koordinaten schwinden, KI an Dominanz gewinnt und Orientierung umso nötiger ist.
Worauf kommt es effektiv an?
Dies fragte ich die Personen an der Basis. Und worauf es in der Schule ankommt, damit Zukunft entsteht. Und junge Menschen handlungsfähig werden und real erfahren, dass es auf sie wirklich ankommt. Bereits im Kindergarten.
Fünf Fragen stellte ich:
- Was motiviert dich? Was gibt dir Kraft und Energie im Alltag?
- Was wundert, resp. bringt dich täglich zum Staunen (positiv und negativ)?
- Wann schüttelst du den Kopf (die Frage nach den Baustellen)?
- Mit Blick auf die letzten 25 Jahre, welches war die positivste Entwicklung?
- Du im Jahr 2045. Wie sieht die Schule in 20 Jahren aus? Ich gebe dir ergänzend fünf Stichworte «Gute Schulen, Integration, Lehrplan 21, Betreuung, Leistung».
Lassen Sie mich Fragmente dieser kleinen subjektiven Recherche in den Zuger Schulen skizzieren. Es ist ein Streifzug, ohne Mahnfinger. Und er braucht etwas Zeit! Am Schluss ziehe ich ein persönliches Fazit.
Eines nehme ich vorweg, es kommt auf alle an. Uneingeschränkt. Das abgestimmte «Wir» bildet der Treibstoff für die Zukunft. Es geht um «emotional intelligente Schulen»[2]. Und der Kanton Zug hat beste Chancen, dass dies auch künftig gelingt.
Der Alltag einer Lehrerin, eines Lehrers. Vom Dazwischen, Daneben, Ringsum und vom Mittendrin.
Die Gespräche mit den Lehrerinnen und Lehrern machen es deutlich. Sie stehen mittendrin. Tagein, tagaus. In einer Klasse mit durchschnittlich 18 bis 20 Schülerinnen und Schülern.
Die Metaebene
Sie stehen zwischen nachdenklichem Fragen und raschem Handeln, zwischen erziehungswissenschaftlichen Erkenntnissen und dem realen Schulalltag, zwischen den Fähigkeiten des Kindes, der Jugendlichen und den elterlichen Erwartungen, zwischen Gegenwart und Zukunft. Die Lehrpersonen gehen neben ihren Schülerinnen und Schülern her und eröffnen deren Weg in ihren künftigen Beruf. Sie regen das Lernen an, steuern, begleiten, beraten, halten die Talente wach, sehen ihren Unterricht aus den Augen der Kinder und Jugendlichen, stimmen sich mit ihren Kolleginnen und Kollegen über die Lernprozesse der Schülerinnen und Schüler ab. Und fördern deren Leistungsbereitschaft. Dabei schauen Sie ringsum in die Vergangenheit und Zukunft, geben den Fragen und Umwegen der Schülerinnen und Schüler Raum und Zeit. Und entdecken dabei Wege, die zu Antworten führen.
Lehrpersonen stehen mittendrin. Und sie können im «Dazwischen», «Daneben» und «Ringsum» bestehen, weil sie Schwerpunkte setzen und einem Mittelpunkt verpflichtet sind. Dieser Mittelpunkt hat ein Gesicht. Es ist das Kind, die oder der Jugendliche.
Der Alltag
Das tönt überschaubar, fast lehrbuchmässig. Die Realität hat ein anderes Gesicht. Da geht es um Gemeinsamkeit und Individualität im Alltag. Zum Beispiel in einer normalen Unterstufenklasse mit 20 Schülerinnen und Schülern. Da sind Kinder aus fünf Kulturkreisen, neun Fremdsprachige, drei Kinder mit Lernschwierigkeiten, eines mit einer Lernbehinderung und eines mit besonderer Begabung. Drei sind Einzelkinder, fünf Kinder besuchen Therapien, drei zeigen herausforderndes Verhalten.
Und das Beeindruckende?
Kein lautes Wort, kein Klagen, dafür die Bemerkung der Lehrerin, dass die «abgestimmte Zusammenarbeit mit ihrer SHP[3] unterstützend und eben Merkmal einer guten Schule sei». Weiter erzählt sie fokussiert von den Sprachbarrieren und den kulturellen Unterschieden, welche in der Zusammenarbeit herausfordernd seien. Auch vom intensiven Austausch zwischen der Schule und dem Elternhaus, der wichtig sei, weil Rechte, Aufgaben und Pflichten kommuniziert und eingefordert werden müssen.
Fast beiläufig berichtet die Lehrerin auch von der Zusammenarbeit mit den Eltern der drei Einzelkinder und den zehn Eltern von Erstgeborenen. Für diese interessierten Eltern sei vieles neu. Sie seien schnell verunsichert und fragen vor allem in der Anfangsphase vermehrt nach.
Das Dilemma-Management im beruflichen Alltag. Handeln in Unsicherheit und im politischen Kontext.
Lehrerin- und Lehrersein oder eine Schule zu führen, bedeutet immer handeln in Unsicherheit. Dilemma-Management quasi. Abschätzung von Folgen, die sich vielfach erst im Nachhinein erkennen lassen. Wie zum Beispiel beim Fördern und Beurteilen auf der Primarstufe mit dem Zuweisungsentscheid im Übergang von Zyklus 2 in den Zyklus 3.
Handeln im politischen Kontext
Dies trifft ebenso auf den Bildungsrat zu. Bei der Zuweisungsdiskussion ins Langzeitgymnasium (LZG) und bei der Überarbeitung des Übertrittsreglements. Güterabwägung pur. Zwischen der Politik, die mit einer teilerheblich erklärten kantonsrätlichen Motion (Balmer/Wiederkehr) mehr Steuerung bei der Zuweisung ins Langzeitgymnasium und damit die Sekundarstufe stärken wollte. Und Lehrpersonen und Eltern, welche die hohe Akzeptanz und Verlässlichkeit des bisherigen Übertrittsverfahrens mit Vornoten (Erfahrungswert) und Lehrpersonen-Empfehlung (Prognosewert) betonten. Und der Überzeugung des Bildungsrats, mittels eines ergänzenden Prüfungselements die Sekundarschule als Rückgrat der Bildungsvielfalt und des dualen Wegs im Kanton Zug (mit oder ohne Berufsmaturität) zu stärken.
Ein anspruchsvoller Gärungsprozess der politischen Kräfte und des politischen Abwägens. Nun ist er abgeschlossen. Der Gegenvorschlag des Kantonsrats sieht neu kantonale Leistungstests (in Deutsch und Mathematik) für jedes Semester ab der 4.Klasse bis zum 1. Semester der dritten Oberstufe vor. Mit einer Gewichtung von 20 % in den Zeugnisnoten.
Demokratische Entscheide akzeptieren und «neu bewerten»
Das ist er auch, der pädagogische Alltag. Und der Respekt von Lehrpersonen und Schulleitungen für demokratische Prozesse. Sich mit Energie zu involvieren, argumentativ um die Sache zu streiten, dann aber getroffene Entscheide zu akzeptieren. Auch wenn die eigene Einschätzung eine andere ist. Und die Fragen bezüglich einer Stärkung der Sekundarstufe und der zahlenmässigen Notwendigkeit an standardisierten Prüfungen und des damit verbundenen Drucks weiterhin da sind.
Nicht bei den Emotionen zu verharren, darauf kommt es an. Und dann abgestimmt nach neuen Lösungen zu suchen. Quasi eine «Neubewertung» vorzunehmen.
Das QM als etablierte Kultur der Zuger Schulen in Entwicklung
Diese Haltung ist sichtbar auf meinem pädagogischen Streifzug. Sie ist Teil einer seit 2009 gewachsenen Kultur der Zuger Schulen. Die ihren Anfang mit dem Rahmenkonzept «Gute Schulen – Qualitätsmanagement an den gemeindlichen Schulen»[4] nahm. Und den Bildungs-, Lern- und Laufbahnerfolg der Lernenden schnörkellos ins Zentrum rückte. Und bewusst machte, dass es dabei auf das erfolgreiche Zusammenspiel von Schüler:In–Lehrperson–Team-Schule–Gemeinde–Kanton und auf die aktive Kooperation mit den Schulpartnern, den Pädagogischen Hochschulen, den Eltern, den Schul-, Sozial- und Gesundheitsdiensten, den abnehmenden Schulen und den Lehrbetrieben ankommt.
Kleiner Exkurs in die Psychologie
Die Wissenschaft weiss einiges darüber, was Menschen gegenüber Stress widerstandsfähiger macht. Dazu gehört auch die Fähigkeit, seine Emotionen zu regulieren und das Vermögen, auch negativen Situationen etwas Positives abzugewinnen. Die Psychologie spricht in diesem Zusammenhang von «positive reappraisal»[5], von einer positiven Neubewertung. Das tönt einfach. Ist es aber nicht. «Resiliente Menschen zeichnen sich durch kognitive und emotionale Flexibilität aus»[6], sagt Neuroökonom Prof. Christian Ruff.
Wer in den Zuger Schulen unterwegs ist, ist beeindruckt von der Widerstandsfähigkeit (Resilienz) vieler Lehrpersonen, ihrer positiven Lebenseinstellung, ihrem Gefühl, selbstwirksam zu sein und ihrer Kompetenz, Probleme zu lösen, und auch negativen Situationen Positives abzugewinnen.
Der eigene Anspruch im Alltag. Kinder und Jugendliche fit machen.
«Was wundert dich, was bringt dich immer wieder zum Staunen?», fragte ich eine Oberstufenlehrerin auf meinem pädagogischen Streifzug.
Ohne zu zögern, meinte sie: «Ich staune, wie resilient viele meiner Schülerinnen und Schülern sind! Wenn ich mich vergegenwärtige (sie machte den Hinweis auf eine suchtkranke Mutter), was diese Jugendlichen mitsichtragen. Ab frühester Kindheit. Ich staune, wie diese Jugendlichen trotz widriger Umstände in ihrem Umfeld den Alltag meistern und fast stoisch ihre Ziele verfolgen.»
Gesellschaftstauglichkeit!
«Das Potential sehen und entfalten. Auch wenn es noch kaum sichtbar sei. Das sei doch Aufgabe der Volksschule. Und es sei eine gemeinsame Aufgabe, auch der Eltern, der Zivilgesellschaft», meinte ich, fast apodiktisch, zu einer Unterstufenlehrerin.
Sie entgegnete mir ebenso entschieden und schnörkellos. Das Wort Talent sei ihr zu allgemein. Wichtig sei doch, dass Kinder lernen mit ihren Stärken und Schwächen selbstständig zu werden. Sie fit für die Zukunft zu machen, darum gehe es. Sie sprach von «Gesellschaftstauglichkeit». Und fragte: «Wie schaffen wir es, dass Kinder mit sichtbar weniger Talenten im Leben in Würde bestehen, einen Beruf lernen und Verantwortung tragen können? Das ist doch die relevante Frage!»
Worauf es wirklich ankommt. Der Versuch, es auf den Punkt zu bringen.
Wir «einigten» uns, worauf es aus «unserer» Sicht in der öffentlichen Schule ankommt.
- Gemeinsam wollen wir der Schülerin, dem Schüler Zukunft eröffnen. Wir wollen die jungen Menschen fit machen, dass sie künftig als selbstständige Autorinnen und Autoren ihres Lebens unterwegs sind. Nicht als Getriebene, sondern als Verantwortliche für ihr Denken, für ihr Fühlen, für ihr Wollen und für ihr Handeln.
- Wir wollen den jungen Menschen die Überzeugung vorleben, dass es sie wirklich braucht! Heute und morgen. Und dass ihre Gedanken Platz haben, dass vieles auch schon jetzt anders sein könnte.
- Wir wollen die Kinder und Jugendlichen in ihren Möglichkeiten sehen. Und wir wollen sie in unserer Mitte und nicht am Rand sozialisieren.
Es geht, auch da waren wir uns einig, in der Schule um Wissen, um Können und um Kompetenzen. Im Eigentlichen geht es um lebenslanges Lernen und um Bildung, die nicht aufhört, wenn das Gelernte vergessen geht. Und Bildung braucht eine Seele und ein Ziel. Sie ist ein Prozess und kein Ergebnis. Sie strebt die Würde, die Eigenständigkeit des Menschen und damit seine Teilhabe an der Gesellschaft an.
Der gemeinsame Nenner im Klassenzimmer. Das Wie.
Kinder und Jugendliche fit für die Zukunft zu machen, braucht ein konkretes «Wie» im heraufordernden Alltag.
Wir stimmten überein und formulieren es so:
Dies geschieht durch unsere Verantwortung, durch Gemeinsamkeit und Individualität, durch anregenden Unterricht, durch starke Inhalte, durch inspirierende Erfahrungen für Herz, Geist und Seele, durch gelebte Vielfalt, durch proaktive Kommunikation, durch Zusammenarbeit und Solidarität, ganz besonders durch Freude an der eigenen Leistung.
Der Kanton Zug auf dem Weg zu «Guten Schulen». Eine trainingsintensive Entwicklungsaufgabe.
Entwicklung passiert nie von der Zuschauertribüne aus. Das machte das Rahmenkonzept «Gute Schulen – Qualitätsmanagement an den gemeindlichen Schulen» ab Beginn klar. Quasi eine ‘Zuger Trainingsanleitung’. Entwicklung geschieht auf dem Spielfeld im abgestimmten Zusammenspiel. «Eine gute Schule gelinge dann, wenn aus Betroffenen Beteiligte werden»[7], gab Regierungsrat Stephan Schleiss die Richtung vor. Diese ‘Trainingsanleitung’ setzte auf ausdauerndes Training aller Beteiligten, auf «Mindeststandards» und «eine hohe Bildungsqualität». Sie benannte die Handlungsebenen und betonte für die gelingende Umsetzung den kontinuierlichen Austausch «zwischen dem Kanton, der den Rahmen vorgibt, den Gemeinden und den vielfältig umsetzenden Schulen, aber auch zwischen den Schulen und innerhalb der Schulen.»[8] Ebenso benannte man die Kooperationspartner:Innen, die Eltern, die gemeindlichen Dienste, die aufnehmenden Schulen, die Lehrbetriebe, die Pädagogische Hochschule.
Fokus Unterricht, Handlungsspielraum, Selbststeuerung
«Austausch und Vernetzung sind Maximen, an denen sich die Qualitätsentwicklung im Kanton Zug orientieren kann»[9], betonte Regierungsrat Schleiss. Mit Fokussierung auf den Unterricht, auf Betonung der Handlungsspielräume für schul- und gemeindespezifische Ausprägungen und auf Selbststeuerung, das heisst auf Eigenverantwortung der Person oder Organisation in der Umsetzung der ihr übertragenen Aufgaben.
Controlling und Rechenschaftslegung
Auch das Korrektiv zur Selbststeuerung, das Controlling und die Rechenschaftslegung, wurden etabliert. Transparent sprach man nun auch von Zielerreichung, von Wirkung, von relevanten einzuleitenden Entwicklungsschritten. Später auf politische Initiative hin auch von Messbarkeit.
Vision, Strategische Entwicklungslinien, Umsetzungstabelle
Damit entstanden eine gemeinsame Sprache und eine Bewusstheit für eine Zuger Schule in Entwicklung. Diese hatte nun ein Rückgrat und ein Gesicht. Ab 2016 erarbeiteten der Bildungsrat und die Konferenz der Schulpräsidentinnen und Schulpräsidenten des Kantons Zug erstmals eine Vision für die Zuger Volksschulen und strategische Entwicklungslinien. Mit einer konkreten Umsetzungstabelle als Planungsinstrument entstanden zudem Sichtbarkeit, Verlässlichkeit und Messbarkeit, auch in der Umsetzung.
Die Überzeugung, dass es gemeinsame Ziele braucht, die in produktiver Zusammenarbeit entwickelt, umgesetzt und systematisch überprüft werden, gewann damit an Selbstverständlichkeit. Der strategische Austausch der DBK[10] mit der SPKZ[11], einmal im Jahr auch im «Dreiergremium» SPKZ-BIRA-REKO[12], ebenso wie mit dem Präsidium des LVZ[13] und des VSL[14] finden nun regelmässig statt. Auch der operative Dialog des Amts für gemeindliche Schulen mit der Konferenz der Rektorinnen und Rektoren.
Instrumente für den Berufsalltag
Entwicklung geschieht auf dem Spielfeld im abgestimmten Zusammenspiel. Das trifft zu. Aber sie braucht neben der ‘Zuger Trainingsanleitung’ auch den nötigen Support. Das Amt für gemeindliche Schule hat diesen Entwicklungsprozess hin zu «Guten Schulen» unterstützt. Hilfreiche Instrumente für «Mitarbeiter:Innen-Gespräche», für die Zusammenarbeit in den «Unterrichtsteams», auch der «Referenzrahmen Schulqualität» und nach einer intensiven Recherche des «Arbeitsplatzes Schule» ein neuer «Berufsauftrag» wurden entwickelt. Ebenso eine Handreichung zum Thema «Schulabsentismus».
Von aktuellen Herausforderungen und Risiken.
«Die Heterogenität im Klassenzimmer wird prospektiv zunehmen, die Spannbreite wird grösser», meinte eine Unterstufenlehrerin. Sie spricht nur indirekt und hörbar lösungsorientiert von ihrer wachsenden Sorge. Doch man sieht es. Diese Sorge beschäftigt Lehrerinnen und Lehrer. Auf allen Stufen. Auch Eltern. «Es sind Kinder», meinte sie, «die in der Regelklasse am richtigen Ort sind. Aber mit ihrem herausfordernden Verhalten Lehrpersonen an Grenzen bringen. Im Moment. Und auf Dauer, wenn nicht interveniert wird und die nötige ergänzende Unterstützung ausbleibt.» Dem Kind «andere Gründe» für sein Verhalten zu geben, das sei die Herausforderung. Sie sei zeitintensiv. Diese könne nur in enger Abstimmung Lehrperson–Klasse–Eltern–Kind/Jugendliche erfolgen und manchmal mit einer befristeten externen Massnahme - in der Haltung «Wir unterstützen dich und die Klasse und bereiten dich auf deine Rückkehr vor».
Auf den Anfang kommt es an
Hörbar bringt die Oberstufenlehrerin ihren Respekt gegenüber ihren Kolleginnen auf der Kindergarten- und Unterstufe (Zyklus 1) zum Ausdruck. Mit Blick auf die enormen Entwicklungsunterschiede der Kinder beim Schuleintritt (das eine Kind könne lesen, das andere noch kaum eine Schere in der Hand halten) würden diese Kolleginnen und Kollegen hervorragende «Grundlagenarbeit» leisten. «Wird diese in der Öffentlichkeit wahrgenommen?», fragte sie und ergänzte, auch mit ihrer Erfahrung als Mutter: «In dieser Zeit bis zum Eintritt in den Kindergarten passiert Wesentliches. Da würden Chancen verteilt oder verpasst. Hier wäre gesellschaftlicher Handlungsbedarf.» Ebenso wie damals bei der Etablierung der schulergänzenden Betreuung von 07.00h-18.00h. Im Alltag erfahre sie den positiven Nutzen des Mittagstisches und der Betreuung.
Die Wahrnehmung des Lehrerinnen- und Lehrerberufs in der Öffentlichkeit war immer wieder Thema auf dem Streifzug. Ob die Politik es schaffe, ein Bild dieses spannenden Berufes ausserhalb von schwarz und weiss zu transportieren? Ergänzend auch die selbstkritische Frage, was Lehrerinnen und Lehrer dazu beitragen können?
Von sinkender Lesekompetenz und «Instagramabilität»
Es trifft zu, das hörte ich auch, dass sich Aufnahmefähigkeit und Aufmerksamkeitsspanne der Kinder und Jugendlichen geändert haben und die sinkende Lesekompetenz ebenso zu den Sorgen der Lehrpersonen gehört. Auch bereitet es vielen Lehrpersonen Kummer, zusehen zu müssen, wie die zunehmende Digitalisierung den Schülerinnen und Schülern «eigentliche Lebenszeit raubt». Jeder Schritt der Jugendlichen müsse heute «instagramable» sein. Meint die Oberstufen-Lehrerin. Sie stelle fest, dass damit bei Jugendlichen die soziale Angst wachse und deren natürliches Selbstwertgefühl sinke. Ergänzend weist sie auf zahlenmässig wachsende Situationen von Schulabsentismus hin.
Von der Chancen-, Ressourcennutzung und dem zukunftstauglichen Spirit.
Vielleicht liegt der grösste Benefit der letzten Jahre darin, dass das, was mit der ‘Zuger Trainingsanleitung’[15] den Akteurinnen und Akteuren auf dem Spielfeld zugemutet wurde, nun Wirkung zeigt.
Im Gewinn an pädagogischer Tiefe und Handlungsfähigkeit, auch im Benennen der eigenen Verantwortung. Vielleicht sind die Schulen erwachsener geworden, dachte ich! Im Klassenzimmer und in den lokalen Schulen werden Entwicklungsfelder schnörkellos benannt. Im Fachjargon «identifiziert», wie die sinkende Lesekompetenz. Man einigt sich, auch das ein positives Ergebnis der Externen Evaluation, auf konkrete Massnahmen, zum Beispiel mit einer Lesewoche in allen Klassen vor Weihnachten an den Chamer Schulen.
Vom Pareto-Prinzip[16] und dem eigenen Perfektionismus
Man bleibt nicht beim Klagen, respektive der gewohnten Anklage stehen. Man sucht Lösungen, trifft Absprachen, auch im Unterrichtsteam. Man spricht über Ressourcen, gemeinsame und individuelle. Viele Lehrpersonen nutzen das Pareto-Prinzip, um ihren eigenen Perfektionismus auszubalancieren und auch um mehr Zeit für die Schülerin oder den Schülern und für sich zu haben. Oder sie überprüfen das Verhältnis von Übungsaufwand und Ergebnis.
Von der Kritik an der Kritik und der Notwendigkeit des kritischen Blicks
Auch die Kritik an der Kritik unter Kolleginnen und Kollegen hat Platz. Vor allem dann, wenn diese pauschal in keinem Verhältnis zu den insgesamt guten Zuger Rahmenbedingungen steht. Auch darüber sprachen wir. Und über die Notwendigkeit des kritischen Blicks der Gewerkschaften LVZ und VSL. Diese seien, wie die Beratungsstelle der Pädagogischen Hochschule Zug, wichtige Anlaufstellen. Sie seien aber noch mehr. LVZ und VSL seien für die Lehrpersonen wichtige kritische Gesprächspartner mit der DBK.
Von der Leistung sprechen, der Elternarbeit und den tanzenden Schneeflocken als Ressource
Und immer wieder staunte ich, wie interessiert Lehrperson über Leistung sprechen. Wichtig sei, so eine Lehrerin, dass die Jugendlichen täglich die Erfahrung machten, dass ihre Leistung zähle und sie mit ihrer eigenen Leistung etwas bewirken könnten. Daher arbeite sie daran, dass ihre Schülerinnen und Schüler einen eigenen Leistungsanspruch in sich tragen. Die Antwort auf das «Wie-Sie-dazu-käme» gab sie, ohne gefragt zu werden. «Damit die Jugendlichen, wenn es künftig in einem Lehrbetrieb schwierig wird, nicht aufgeben!»
Die Äusserungen zum Lehrplan 21 erstaunten. Dieser hätte zu einem positiven Mindset geführt. Fundiertes Wissen bleibe wichtig, aber der Fokus auf die anwendungsorientierten Kompetenzen sei ein wichtiger Schritt gewesen. «Kinder trauen sich heute mehr zu. Sie zeigen Verantwortung.» Das bewusste «Arbeiten» mit den überfachlichen Kompetenzen zeige positive Wirkung.
Auch und besonders die Arbeit mit den Eltern. Sie investiere, so die Oberstufen-Lehrperson, anfänglich viel Zeit in die Pflege der Beziehung mit den Eltern. Manchmal seien es nur kurze Gespräche, ein Telefonanruf oder eine Notiz. Das stärke ihr den Rücken und sie hätte das Gefühl, dass sie mit den Eltern am gleichen Strick ziehe.
Auf die Frage nach ihren Ressourcen nannten die Lehrpersonen unzählige positive Erfahrungen mit ihren Schülerinnen und Schülern. Wie jene mit dem Zweitklässler, der tags zuvor sichtbar glücklich seiner Lehrerin mitteilte: «Dies ist der schönste Schultag gewesen, den ich je erlebt habe.» Oder der kleine Moment im November in einer dritten Primarklasse, als die Kinder die ersten tanzenden Schneeflocken sahen und freudig aufsprangen und riefen: «Es schneit!»
Da entstehe ein Narrativ, das trägt und in andern anspruchsvollen Momenten Kraft gibt!
Versuch eines persönlichen Fazits. Das Training zeigt Wirkung. Die Zukunft findet statt.
Zukunft entsteht in einer Kultur, die eine Sprache dafür hat, woraus wir leben und wofür wir leben. Die Nahrung dazu ist Bildung. Und Bildung braucht, dies kam zur Sprache, eine Seele und sie braucht ein Ziel. Sie ist ein Prozess und kein Ergebnis. Sie strebt die Würde, die Eigenständigkeit des Menschen und seine Teilhabe an der Gesellschaft an. Darum geht es.
Der Kanton Zug hat mit dem Projekt «Gute Schulen» den Akteurinnen und Akteuren in rund 20 Jahren ein Fitnessprogramm verschrieben, das die Betroffenen zu Beteiligten macht und sie in die Verantwortung einbindet. Austausch und Vernetzung wurden zu Maximen erklärt. Und sie wurden praktiziert. Darin liegt der zukunftstaugliche Spirit. Man sprach nicht über Zukunft, man beschreitet sie. Man trainiert gemeinsam. Und es bereitet vielfach auch Freude!
Dieses abgestimmte «Wir» ist der Treibstoff für die Zukunft.
Damit im Hier und Jetzt weiterhin Zukunft entsteht, braucht es sie alle.
Die Politik (RR, KR, SPKZ, BIRA), die in der gesetzgeberischen und reglementarischen Gestaltung die Sicht der Basis miteinbezieht und darauf achtet, Verbindlichkeit, Messbarkeit und Gewährung von individuell gestaltbarem Freiraum ausgewogen zu gestalten.
Eine Bildungsverwaltung (DBK, AgS), welche die Entwicklung der Rahmenbedingungen mit den Betroffenen abstimmt und Vorgaben auf Notwendigkeit und Anwendbarkeit im Alltag prüft, um damit Orientierung am gesetzten Rahmen und gestaltbarer Freiraum gleichermassen zu ermöglichen.
Die Pädagogischen Hochschulen, die den Umgang mit den eigenen und gesellschaftlichen Ressourcen, mit zivilgesellschaftlicher Verantwortung und Resilienz als der Fähigkeit, sich im Gleichgewicht zu halten, zum überdauernden Thema in der Grundausbildung machen.
Gewerkschaften (LVZ und VSL), die das Gute benennen, den Berufsstand «Lehrerin/Lehrer» positiv positionieren, Disparitäten benennen und mit starken Argumenten für gute Rahmenbedingungen einstehen.
Die Pensionierten, die nicht mit dem roten Finger auf das Gute von Früher, sondern auf das Mögliche in der Gegenwart hinweisen. Damit Zukunft entsteht.
Die Eltern, die mit ihren Kindern im Dialog sind, hinhören und doch Mut haben, Grenzen zu setzen. Eltern auch, die den direkten Weg bei Schwierigkeiten suchen.
Rektorinnen und Rektoren, die eine Brücke des Vertrauens zur Öffentlichkeit bauen, Komplexität reduzieren und in ihrer Personalführung auf individuelle Perspektivenentwicklung und Gesundheit achten.
Schulleitungen, die nahe an der Basis sind und damit die Sorgen der Lehrerinnen und Lehrer kennen und ihnen lösungsorientiert und Mut machend den Rücken stärken.
Lehrerinnen und Lehrer, welche die Begeisterung der Kinder beim Tanzen der ersten Schneeflocken teilen, und sehen, dass es Armut auch im Klassenzimmer gibt.
Schülerinnen und Schüler, die das Unmögliche denken und anstreben und uns auf ihrem Weg zu Verantwortlichen für ihr Denken, Fühlen, Wollen und Handeln ganz persönliche Fragen zu unserem eigenen Verhalten stellen. «Tragen wir Erwachsenen wirklich Sorge zu deren Zukunft?»
Was ist, ist gut. Weil alle ihre Verantwortung sehen.
Ich habe guten Grund zu danken. Was im Kanton Zug in den letzten zwanzig Jahren entstanden ist, ist gut. Und es ist gemeinsam entstanden. Diese kollektive Verantwortung trägt uns auch in die Zukunft. Allen Megatrends zum Trotz. Da habe ich Vertrauen in die Beteiligten. Immerhin haben wir einiges an gemeinsamen Trainingseinheiten absolviert!
Den zukunftstauglichen Spirit habe ich auf meinem Streifzug durch die Zuger Schulen gefunden. Und auch die Zuversicht, dass wir auch die nächsten zwanzig Jahre meistern werden.
Wenn wir, «hartnäckig füreinander da sind und in Beziehung bleiben!», wie es eine Sekundarlehrerin mit Bezug zum Umgang mit ihren Schülerinnen und Schülern ausdrückte.
Dazu wünsche ich uns allen gutes Gelingen und viel Glück.
*Urban Bossard (69) (urban.bossard@gmail.com) ist in Zug aufgewachsen. Nach Studien in Fribourg, Paris und Stanford (USA) kam er mit einem Lizentiat in Theologie/Philosophie und einem abgeschlossenen Sekundarlehrerstudium sprachlicher Richtung 1992 als Rektor an die Schulen Baar. Dies mit viel praktischer Erfahrung, die er während acht Jahren als Rektor an der Privatschule Kollegium St. Michael Zug erworben hatte. Urban Bossard ist Vizepräsident des Bildungsrats. Seit 2000 ist er für Die Mitte im Rat. Per Ende 2025 hat er demissioniert. Urban Bossard lebt in Baar, ist verheiratet und Vater von vier erwachsenen Kindern (zwei Töchter, zwei Söhne).
Fussnoten
- [1] Projekt Uchat-Schule: https://www.rotary-zug.ch/projekt-uchat-schule/
- [2] UZH-Prof. Jochen Menges’ Forschung fokussiert auf Emotionen bei der Arbeit. Er leitet auch das Zentrum für Führung in der Zukunft der Arbeit an der Universität Zürich. Er spricht aufgrund seiner Forschungen von der Bedeutung der emotionalen Fähigkeiten der Mitarbeitenden und eines auf Emotionen ausgerichteten Personalmanagement auf das Arbeitsumfeld. Ziel, so Menges, sei das «emotional intelligente Unternehmen». Vgl. «Arbeiten und sich gut fühlen». In: UZH-Magazin, Teamwork, Nr. 2/2023, S. 28ff.
- [3] SHP: Schulische Heilpädagoginnen und Heilpädagogen
- [4] Vgl. Rahmenkonzept «Gute Schulen – Qualitätsmanagement an den gemeindlichen Schulen», Hrsg. Direktion für Bildung und Kultur, Amt für gemeindliche Schulen (2. Auflage), Zug 2011.
- [5] Objektiven Stress gibt es nicht. Wie Belastungen wahrgenommen werden, hängt stark von der einzelnen Person ab, von ihrer Biologie, auch von ihrer Biographie und ihrem Umfeld. Darauf weisen UZH-Psychologin Prof. Birgit Kleim und UZH-Neurobiologin Prof. Isabelle Mansuy im Flagship-Forschungsprojekt STRESS hin. Vgl. dazu auch «Auf dem Seil tanzen». In: UZH-Magazin, Was uns stark macht. Krisen, Stress und Resilienz, Nr. 3/2025, S. 26ff.
- [6] Vgl. UZH-Magazin, Nr. 3/2025, S. 27.
- [7] Rahmenkonzept «Gute Schulen», S. 3.
- [8] ebd., S. 3.
- [9] ebd., S. 3.
-
[10] DBK: Direktion für Bildung und Kultur
-
[11] SPKZ: Schulpräsidentinnen und -präsidenten-Konferenz des Kantons Zug
-
[12] REKO: Rektorinnen- und Rektorenkonferenz; BIRA: Bildungsrat
-
[13] LVZ: Lehrerinnen- und Lehrerverein Zug
-
[14] VSL Zug: Verband Schulleiterinnen und Schulleiter Zug
-
[15] Gemeint ist das Rahmenkonzept «Gute Schulen – Qualitätsmanagement an den gemeindlichen Schulen».
-
[16] Das nach dem italienischen Ökonomen Vilfredo Pareto benannte Paretoprinzip, auch 80-zu-20-Regel genannt, besagt, dass etwa 80 % der Ergebnisse mit 20 % des Gesamtaufwandes erzielt werden können. Die verbleibenden 20 % der Ergebnisse erfordern mit 80 % des Gesamtaufwandes die meiste Arbeitszeit.