Über nichts wird so oft geflucht, wie über die Noten

Peter Noll war ein Grosser unter den Rechtsgelehrten. Als meine Tochter neulich mit einer Notenfrage nach Hause kam, habe ich mich an einen Aufsatz von ihm erinnert, den er als 16-jähriger Gymnasiast für eine Schulzeitung verfasst hatte. Das Thema: Noten.
Von Alexander Lioris*
Vor einiger Zeit fiel mir ein Fachbuch in die Hände; Peter Nolls Gesetzgebungslehre (Fassung letzter Hand). Das Meisterwerk eines Grossen unter den Rechtsgelehrten (im Jahre 1982 im Alter von 56 Jahren viel zu früh verstorben). Gemäss dem ausgezeichneten Nachwort von Dominik Kawa wurde an seiner Totenfeier folgende Reminiszenz verlesen:
«[…] Das Jusstudium vermittelte mir dann aber eine faszinierende Erkenntnis gerade im Rückblick auf meine Schulzeit und meine schlechten Betragensnoten. Damals meinte ich, ich sei der Macht der Lehrer wehrlos ausgeliefert. Nun sah ich, dass alle Macht ans Recht gebunden ist, dass ich zumindest eine Begründung für meine schlechten Betragensnoten hätte verlangen können, vielleicht sogar Rekurse machen usw. Dass jedermann Rechte hat, dass er diese Rechte in der Verfassung und im Gesetz finden kann, dass der Mächtige sie respektieren muss, das kam mir damals vor wie eine Erleuchtung.»
Letzthin brachte meine neunjährige Tochter einen Test mit der Bewertung «Lernziel erreicht» nach Hause. Von 17 möglichen Punkten hatte sie 14 erreicht. Sie ging mit dem Test in ihr Zimmer und sass dort in sich versunken da. Ich sah sie mit den Fingern etwas abzählen. Was machst du, fragte ich sie. Ich versuche, mir meine Note auszurechnen, gab sie zur Antwort (zum Glück waren die maximal zu erreichende und die erreichte Punktzahl angegeben). Weshalb, fragte ich, es steht ja: Lernziel erreicht? Ja, aber ich möchte wissen, was das bedeutet, antwortete sie, das könne ja alles heissen, das könne eine 4 oder eine 6 sein. Unter Zuhilfenahme von Viertelnoten-Schritten, kam sie dann auf die Note 5,25. Sie war zufrieden. Auf meine geäusserten Bedenken hin, dass es allenfalls nicht sicher sei, dass es tatsächlich eine 5.25 sei, da wir ja nicht sicher wüssten, ob die Prüfung linear benotet werde, schaute sie mich kurz von der Seite an, mit einem Ausdruck, der einem zeigt, dass die Schauende das Gefühl hat, man lebe hinter dem Mond (ich bekam, wie die Jugendlichen heute so sagen, ein «side-eye»1). Es ist eine 5.25, bekräftigte sie abschliessend. Die Welt war für sie wieder in Ordnung (auch weil sie – wie sie sagte – mit dieser 5.25 eine Note «wiederausgebügelt» habe, die sie vor längerem enttäuscht hatte).

Im Nachlass von Peter Noll hat sich das Exemplar einer Schulzeitung erhalten, worin der damals 16-jährige Gymnasiast seine vielleicht erste legistische Kritik vorträgt. Sie gilt dem Notensystem an der benachbarten Töchterschule, das neuerdings von der Wertung 1 – 6 auf den Dreischritt ungenügend-genügend-gut umgestellt worden ist. «Es wird ja über nichts so oft geflucht, wie über die Noten», bemerkt Noll einleitend und fährt fort: « […] Das neue System verlangt von Lehrer und Schüler eine höhere Einstellung, einen gewissen Idealismus. […] Und darin scheint mir eben die schwache Stelle der Neuerung zu bestehen, nämlich in der Bosheit der Menschen, zu denen ja auch die Lehrer gehören. […] Wenn der Lehrer die Objektivität, die ihm die Noten aufzwangen, von sich aus nicht aufbringt, dann allerdings kann der Schüler das Gefühl bekommen, er sei der Lehrerwillkür ausgeliefert und werde ‘versegglet’. […] und jenes wohlige Gefühl, in dem man schwelgt, wenn man gegen Ende des Quartals auf einer guten 4 ausruhen kann, und weiss, dass es auf die letzten Schriftlichen nicht mehr ankommt, bleibt ihm versagt, da keine schützende Rechnung über ihm steht.»
Bei uns gilt die Schulpflicht. In der Schule wird bewertet und aufgrund dieser Bewertungen findet über kurz oder lang eine Selektion statt. Wenn man Feedback nur in Worten erhält, wird es interpretationsbedürftig, nicht kontrollierbar, mithin unter Umständen willkürlich. Es fehlt die schützende Macht des Rechts. Und wie führte Peter Noll aus: «Der Schwache braucht das Recht, das ist schon ganz deutlich gesehen worden in der Antike und noch früher, das können Sie in einer stillen Stunde nachlesen, im ersten Buch des Propheten Jesaja, dort mit ungeheuer eindrücklichen Worten».
1«Side-eye“ gehört zu den zehn nominierten Begriffen, die für das Jugendwort 2023 zur Auswahl stehen. Der Begriff kommt aus dem Englischen und beschreibt einen bestimmten Gesichtsausdruck, bei dem die Augen zur Seite geschoben werden, ohne den Kopf zu drehen. Die Bedeutung des Begriffs beschreibt das Urban Dictionary übersetzt als ein Ausdruck, der in der Regel verwendet wird, um Missbilligung und/oder Ablehnung gegenüber einer Aussage, Handlung usw. auszudrücken bzw. um zu zeigen, dass man eine Handlung oder Aussage der angeschauten Person als komisch oder seltsam empfindet.
*Alexander Lioris ist Leiter Rechtsdienst und stellvertretender Generalsekretär der Direktion für Bildung und Kultur des Kantons Zug.