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25.06.2019

Mit Bindung gegen den Leistungsstress

25.06.2019
Leistungsstress in der Schule
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Die Fähigkeit, mit Druck umzugehen, ist nicht einfach im Mensch angelegt. Sie muss geübt werden. Starke Bindungen zuhause und in der Schule helfen dabei. Am Prinzip «Bindung vor Bildung» führt kein Weg vorbei.

Von Kurt Bollhalder*

Die Schule bietet den Kindern vielfältige Gelegenheiten, sich zu entwickeln und zu lernen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der die Bedingungen fürs Lernen erforscht und sichtbar gemacht werden. Konzepte wie Wohlbefinden, Geborgenheit, Verlässlichkeit, Beziehung, um nur einige zu nennen, finden Eingang in die pädagogische Literatur, in Veranstaltungen, Kongresse, in schulbezogene Konzepte und in Visionen.

Dennoch taucht im Bereich von Schule und Lernen in verschiedenen Kontexten das Thema Schulleistung als Stressfaktor auf. Lehrpersonen zeigen sich teilweise beunruhigt, wegen zu hohen Leistungserwartungen seitens Eltern an ihr Kind. Andererseits sorgen sich Eltern um ihre Kinder, welche unter den Leistungsanforderungen der Schule leiden. Oder pädiatrische Fachpersonen stellen Symptome fest, welche mit Leistungsdruck zu tun haben können. Lehrmeister machen sich Sorgen, ob der zukünftige Lehrling wirtschaftlich tragbar ist, erwarten von einem Schulsystem leistungsfähige Lernende. Schulleistungsdruck ist nebst vielen anderen Gründen, wie z. B. das Aussehen oder zu viel verplante Zeit, ein bedeutender Faktor, der bei Kindern zu Stresserleben führt. Oft steht hinter dem Schulleistungsdruck eine Reihe von meist sehr verständlichen Befürchtungen im Hinblick auf die Zukunft.

Die Erwartung von hohen Leistungen ist allgegenwärtig.

Schulleistungsstress entsteht da, wo die Anforderungen und Erwartungen die Ressourcen und Möglichkeiten des Kindes übersteigen, oder da, wo Situationen die Überzeugung auslösen, Aufgaben und Anforderungen nicht bewältigen zu können. Auf der Erwartungsseite können z. B. Eltern, aber auch schulische Bezugspersonen oder das weitere familiäre Umfeld stehen. Unkenntnis über die Entwicklungsbedürfnisse von Kindern, aber auch über Generationen hinweg tradierte Gewohnheiten, Werthaltungen und Vorstellungen können zu unangemessenen Erwartungen an das Kind führen. Dahinter verbergen sich oft Ängste, welche dann die Berücksichtigung der kindlichen Möglichkeiten in den Hintergrund drängen. Das Kind selber kann dabei ebenfalls zu hohe Erwartungen an sich selber entwickeln. Auf der Ressourcenseite ist nicht nur an die intellektuellen Fähigkeiten des Kindes zu denken. Auch fehlende oder ungünstig eingeteilte Zeit, fehlende Unterstützung in der Schule oder seitens Eltern, beispielsweise aufgrund von Fremdsprachigkeit oder Berufstätigkeit, sowie sozioökonomische Faktoren spielen eine Rolle. Enge Wohnverhältnisse können dazu führen, dass dem Kind kein ruhiger Platz für das Erledigen von Hausaufgaben oder für die Vorbereitung der Lernkontrollen zur Verfügung steht.

Schuldzuweisungen helfen da nicht weiter, haben sich aber manchmal, zumindest in den Köpfen, bereits festgesetzt. Eine Lösung ist dann nicht einfach. Das frühzeitige gemeinsame Gespräch zwischen Schule und Eltern ist im konkreten Fall wichtig. Ängste und Befürchtungen können geklärt werden. Die unterschiedlichen Vorstellungen über Bildung und Schule können z. B. kulturell bedingt sehr gross sein. Aber auch eigene Kindheitserfahrungen der Eltern wie auch der Lehrpersonen prägen die Vorstellungen, was bezüglich Schulleistungen von den Kindern zu erwarten ist. Der Austausch und die Klärung verschiedener Vorstellungen darüber, welche Bedeutung Schule und Lernen für die Beteiligten hat, sind wichtig und benötigt Offenheit für neue Erfahrungen.

Die Erwartungen gehen meistens auseinander. Da hilft nur das Gespräch.

Schulleistungsstress kann sich bei Kindern und Jugendlichen ganz unterschiedlich bemerkbar machen. Es können sich Änderungen im Verhalten oder in der Befindlichkeit oder auch körperliche Symptome zeigen. In der Schule häufig zu beobachten sind: Konzentrationsschwierigkeiten, Unruhe, Gereiztheit, Müdigkeit, häufiges Kopf- oder Bauchweh und in der Folge Leistungsabfall. Diese Anzeichen können auch zuhause beobachtbar sein. Da können zudem Schlafprobleme, Rückzug, vermehrte Streitereien mit Geschwistern oder zunehmende Probleme mit den Hausaufgaben Hinweise für Schulleistungsdruck sein. Bei jüngeren Kindern stehen oft die körperlichen Symptome im Vordergrund, bei älteren Kindern die emotionale Befindlichkeit. Ältere Kinder zeigen oft auch verbal geäusserte Resignation wie «das schaff ich sowieso nicht». Oft haben aber auch Jugendliche keine Sprache für die meist nur diffus erlebten Erschöpfungsgefühle. Umso wichtiger ist es, Anzeichen von Schulleistungsstress ernst zu nehmen und auch seitens Schule frühzeitig anzusprechen. Ein sorgsames Gespräch mit dem Kind und zwischen Schule und Eltern ist hilfreich, um herauszufinden, ob den Symptomen möglicherweise Schulleistungsdruck zugrunde liegt. Den betroffenen Kindern Faulheit oder fehlender Wille zuzuschreiben wäre grundlegend falsch, würde eine zusätzliche Belastung bedeuten und eine Negativspirale in Gang setzen.

Versuchen Sie Anzeichen von Schulleistungsstress frühzeitig zu erkennen. Nehmen sie diese ernst.

Zum Lernen gehören herausfordernde Lernsituationen dazu. Diese regen den Lernprozess an. Anstrengung ist ein wichtiger Faktor für den Lernerfolg. Die Herausforderungen bzw. der Druck dürfen aber nicht zu Angst und Hilflosigkeit führen. Die Schule bringt Situationen mit sich, welche von den einen Kindern und Jugendlichen als anregend, abwechslungsreich und interessant wahrgenommen werden. Dazu gehören nicht nur Lernsituationen im Unterricht, sondern ebenso soziale Situationen wie z. B. der Kontakt zu Gleichaltrigen auf dem Schulweg oder Pausenplatz. Für andere Kinder hingegen, sind sie eine grosse Hürde und lösen Befürchtungen, Ängste, Hilflosigkeit und grossen Stress aus. Schulleistungsdruck bezieht sich mehr als nur auf das Lernergebnis. Die geforderte Konzentrationsleistung und Anpassungsleistungen im Verhalten kommen beispielsweise ebenso dazu. Damit wird nicht nur die Hausaufgaben- oder Prüfungssituation zum Stressfaktor. Auch der Kindergarteneintritt mit seinen Anforderungen kann für ein Kind Leistungsdruck auslösen, für ein anderes ein Konflikt mit einem oder mehreren Kindern, die Wochenhausaufgaben, das Schwimmen, das bevorstehende Schullager, der Übertritt in die Oberstufe, ein Vortrag, wiederholt misslungene Lernkontrollen, die Ungewissheit einer neuen Klassenzusammensetzung, eine als streng wahrgenommene Lehrperson etc.. Schulstresserleben hängt zudem von der aktuellen Lebenssituation ab. Ein Kind z. B., dessen Eltern in Trennung sind, oder ein Kind, das soeben einen weiteren Umzug hinter sich hat, kann übliche Anforderungen der Schule bereits von einem erhöhten Stresspegel aus erleben.

Jedes Kind erlebt Anforderungen anders.

Die Auslöser für das Erleben von Schulleistungsdruck sind also sehr vielfältig. Ebenso verschieden sind die Möglichkeiten, um den Leistungsdruck besser regulieren zu können oder zu vermindern. Die Palette reicht von den Hilfsangeboten der Schule (z. B. individualisierter Unterricht, Coaching durch die Lehrperson, Unterstützung durch die Schulische Heilpädagogik), hin zu den Freizeitangeboten (z. B. Sport) bis hin zu privat organisierten therapeutischen Interventionen. Neben diesen eher individuellen Möglichkeiten spielt die Beziehung der schulischen Bezugspersonen zu den Lernenden und der Umgang mit deren Bindungsbedürfnis eine grundsätzliche und zentrale Rolle in der Regulation von Schulleistungsstress.

Schulleistungsdruck löst Stressreaktionen aus und aktiviert angeborenes Bindungsverhalten. Dadurch rückt das Bemühen um Sicherheit und Beruhigung vorübergehend oder langfristig in den Vordergrund, wohingegen das Explorationsinteresse und das Lernen gehemmt werden. Darauf wird im Folgenden genauer eingegangen.

Weniger Stress durch Bindung
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Stress und Bindungsverhalten: Auf der Suche nach Schutz und Stressregulation
Wir Menschen haben die Fähigkeit ausgebildet, auf Stresssituationen mit Stressreaktionen zu reagieren. Unser Organismus stellt Ressourcen bereit, um eine unbekannte und als vorerst bedrohlich eingeschätzte Situation zu bewältigen und damit in ursprünglichem Sinn unsere Existenz zu sichern, also um zu überleben. Unter anderem steigen Blutdruck und Puls, zugleich werden Verdauung, Wachstum und Immunsystem gehemmt. Dafür werden wir in einen Zustand versetzt, der es uns ermöglicht zu kämpfen, zu fliehen oder zu erstarren. Im Laufe unserer individuellen Entwicklung lernen wir im Kontakt mit unseren wichtigsten Bezugspersonen diese Stressreaktionen zu regulieren und so unser Verhalten den gesellschaftlichen Normen entsprechend einigermassen angemessen zu steuern. Dieser Entwicklungsprozess unterliegt einer komplexen Vielfalt von Einflüssen wie z. B. familiären, gesellschaftlichen, kulturellen Normen und Werten. Aber auch vorgeburtliche, genetische und konstitutionelle Faktoren eines Menschen und seiner Bezugspersonen haben Einfluss. Auch wenn wir in der Regel gelernt haben, die Stressreaktion nicht in Kampf, Flucht oder Erstarrung umzusetzen, bleiben in Stresssituationen Begleiterscheinungen bestehen, welche willentlich nur wenig kontrollierbar sind. Z. B. nehmen Kinder bei Stress schulische Inhalte weniger gut wahr, weil die Wahrnehmung eingeengt und auf das Wesentliche der Stresssituation gerichtet ist. Die Gedächtnisleistung nimmt ab, die körperliche Unruhe kann zunehmen, man flieht in die eigene Fantasiewelt, schweift in Gedanken ab oder erstarrt in Teilnahmslosigkeit. Unangenehme, Angst auslösende Erlebnisse lernen wir zwar sehr schnell, damit diese in Zukunft gemieden werden können. Angst verhindert aber, neu zu Lernendes mit bereits bekannten Inhalten zu verknüpfen. Chronischer Stress führt zu bekannten Symptomen wie z. B. physischem und psychischem Leistungsabfall, Schlaflosigkeit, Depression, Magen- und Kopfschmerzen und Vergesslichkeit, auch bei Kindern.

Zum Glück haben wir Menschen im Verlauf der Evolution als Säugetiere ein Bindungsverhalten entwickelt. Dieses angeborene Verhaltenssystem ist sowohl bei Kindern wie auch bei Erwachsenen darauf ausgerichtet, in Stresssituationen Schutz und Sicherheit bei unseren Bezugspersonen zu suchen. Auf heutige Schulsituationen übertragen, kann das für Kinder z. B. die Suche nach Schutz vor Versagensängsten, vor Schamgefühlen, vor der Befürchtung, nicht mehr dazu zu gehören usw. bedeuten. Damit wir lernen, mit Stress umzugehen, sind wir von Geburt an auf regulierende Interaktionen mit verlässlichen, feinfühligen Bezugspersonen angewiesen. Das Bindungsverhalten sichert nicht nur das Überleben des Babys. Es hilft auch dem Kleinkind, später dem Schulkind und auch uns Erwachsenen, die nötige Unterstützung bei den Bezugspersonen zu finden und damit erwähnte beeinträchtigende Symptome zu verhindern. Mit der Erfahrung einer verfügbaren, beruhigenden Bezugsperson lernt das Kind bereits von Geburt an, Stress zu regulieren und entwickelt in der Regel eine sichere Bindung zu seinen Bezugspersonen. Ob Kinder ein sicheres oder unsicheres Bindungsverhalten entwickeln ist nicht ausschliesslich, aber doch entscheidend davon abhängig, ob die primären Bezugspersonen (in der Regel mindestens ein Elternteil) genügend gut verfügbar sind oder nicht. Daneben spielen auch die kindlichen Anlagen und soziale Faktoren eine Rolle. Bei massiver Vernachlässigung oder physischer bzw. psychischer Gewalt entwickelt das Kind ein pathologisches desorganisiertes Bindungsverhalten.

Das Kind lernt in der Beziehung, Stress zu regulieren.

Kinder sind nicht erst beim Schuleintritt mit herausfordernden Situationen konfrontiert. Als krabbelnde Babys erkunden sie ihre Umwelt, lernen dabei vieles und erleben manche neue Überraschung auf ihren Entdeckungstouren. Verunsichernde, Angst auslösende Erfahrungen sind dabei unvermeidlich: ein Hund bellt in der Nähe, eine fremde Person taucht auf, der spitze Stein hat wehgetan. Beängstigende Situationen lösen das angeborene Bindungsverhalten aus; das Bindungsbedürfnis ist aktiviert. Das Kind sucht Schutz und Sicherheit z. B. bei der Mutter. Die Erfahrung, dass es Sicherheit, Hilfe und Beruhigung findet, unterstützt das Kind, sich an weitere Entdeckungsreisen heranzuwagen, seinen Explorationsdrang fortzuführen und dadurch weiter zu lernen. Zudem entwickelt das Kind aufgrund von unzähligen verlässlichen, haltgebenden Interaktionen, vorerst mit Mutter oder Vater, eine haltgebende innere Vorstellung dieser Interaktionen. Es entwickelt daraus im besten Fall Selbstvertrauen und Selbstwirksamkeit und eben ein sicheres Bindungsverhalten. Diese Entwicklung ist mit dem Eintritt ins Schulalter noch nicht abgeschlossen.

Eine gute Bindung zur Lehrperson ist Voraussetzung für das Lernen in der Schule.

Das Bindungsbedürfnis gehört zu den Grundbedürfnissen des Menschen und bleibt auch im Erwachsenenalter bestehen. Mit dem Schuleintritt nehmen die Kinder dieses angeborene Bedürfnis mit. Sie können es nicht zuhause lassen. Es wird an die Lehrperson herangetragen. Lehrpersonen werden in der Regel zu weiteren Bindungspersonen, nebst den Eltern, welche meist in der Hierarchiestufe weiter oben bleiben. Ist das Bindungsverhalten durch eine verunsichernde Situation im Unterricht aktiviert, kann das Kind nicht gleichzeitig konzentriert und aufmerksam lernen. Es ist damit beschäftigt, und darauf angewiesen, Sicherheit und Beruhigung bei einer Bezugsperson zu finden. Der Umgang der schulischen Bezugspersonen mit diesem Bedürfnis nach Schutz und Sicherheit ist für das schulische Lernen bedeutsam. Aus Sicht der Bindungsforschung gilt das Prinzip «Bindung vor Bildung». Jahrzehntelang wurde die Bedeutung, dass Menschen, insbesondere Kinder, auf nahe Bezugspersonen angewiesen sind, in der Wissenschaft nur begrenzt thematisiert. Inzwischen gilt das Bindungsbedürfnis als das empirisch am besten abgesicherte psychische Grundbedürfnis.

Weniger Stress durch Bindung
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Die Dynamik der Beziehungsgestaltung – Chancen und Gefahren
Gut 60 % aller Kinder entwickeln im Laufe des ersten Lebensjahres eine sichere Bindung zu ihrer primären Bezugsperson. Ungefähr 25 % der Kinder entwickeln eine unsicher-vermeidende und ca. 10 % eine unsicher-ambivalente Bindung.

Sicher gebundene Kinder zeigen im Vergleich zu unsicher gebundenen Kindern im Schulalter meist ein besseres Selbstvertrauen, mehr Selbstwertgefühl, mehr Selbstwirksamkeitserwartungen, bessere Resilienz (Robustheit) bei Belastungen und qualitativ bessere Beziehungen zu Gleichaltrigen. Schulkinder mit sicherer Bindung können sich bei den Lehrpersonen besser Unterstützung und Hilfe holen. Das feinfühlige und verlässliche emotionale Eingehen auf die Sicherheitsbedürfnisse der Kinder fördert Fähigkeiten, welche in der Schule auch angestrebt werden, wie beispielsweise Sozialkompetenz, Motivation, Aufmerksamkeit etc. Die Bindungsforschung widerlegt den Mythos, dass ein Kind, um in der Realität bestehen zu können, gewissen Frustrationen ausgesetzt werden muss. Damit ist nicht gemeint, dass Kinder dauernd eng begleitet werden und von möglichen Unsicherheiten ferngehalten werden müssen. Kinder brauchen sehr wohl auch Freiraum. Es geht aber darum, dass eine bedeutsame Bezugsperson erreichbar ist, um bei Bedarf Sicherheit und Beruhigung zu geben.

Kinder, die eine gute Bindung erlebten und erleben haben ein besseres Selbstvertrauen, Selbstwertgefühl und fühlen sich wirksam. Sie erleben weniger Stress.

Kinder mit unsicherem Bindungsverhalten haben weniger Bewältigungsmöglichkeiten bei Stress. Sie können ihre Wünsche nach Unterstützung gegenüber der Lehrperson schlechter zum Ausdruck bringen. Ist ein Schulkind unsicher, ob es in Stresssituationen Beruhigung finden wird und hat es in seinem Leben zudem bereits viele enttäuschende Vorerfahrungen erlebt, kann das Bindungsverhalten Formen wie Rückzug, Trotz, Ablehnung von Hilfe, Resignation oder auch Aggression annehmen. Unsicher vermeidende Kinder weichen dem Kontakt eher aus. Es besteht einerseits die Gefahr, dass diese Kinder von den schulischen Bezugspersonen fälschlicherweise als unabhängig und selbständig wahrgenommen werden und ihnen dadurch weniger Aufmerksamkeit geschenkt wird. Andererseits kann die Bezugsperson, ob Lehrperson oder Eltern, dieses ausweichende oder aggressive Verhalten als persönliche Abweisung empfinden. Dass die persönliche Betroffenheit nicht ausagiert werden soll, versteht sich von selber. Anstatt als Bezugsperson dieses Verhalten als gegen sich gerichtet zu verstehen, ist es hilfreich, frühzeitig auch die Möglichkeit eines dahinterliegenden Bedürfnisses nach Sicherheit und Schutz in Betracht zu ziehen. Diese Sichtweise kann helfen, den Kontakt zum Kind hilfreich zu gestalten und ihm eine haltgebende und damit neue korrigierende Erfahrung zu ermöglichen oder zumindest bereitzuhalten.

Haben Sie schon daran gedacht, aggressive Kinder 'nur' als Kinder zu sehen, die nach Bindung, nach emotionaler Nähe suchen?

Selbstverständlich sollte Unterstützung und Beruhigung unaufdringlich und die Grenzen akzeptierend angeboten werden. Oft ist bereits hilfreich, gegenüber dem Kind eine achtsame und wohlwollende Haltung zu entwickeln. Wird hingegen der Wunsch nach Sicherheit und Stressberuhigung nicht wahrgenommen, erlebt das Kind eine Wiederholung früher abweisender Erfahrungen. Eine solche Dynamik verstärkt beim Kind die Überzeugungen seiner Selbstunwirksamkeit und erhöht den empfundenen Schulleistungsdruck. Das frühzeitige Erkennen eines Bindungsverhaltens kann helfen, Motivationsverlust, Leistungsabfall und nicht zuletzt störendem Verhalten vorzubeugen und Schulleistungsdruck zu vermindern. Das Eingehen auf die Sicherheitsbedürfnisse eines Kindes schliesst aber adäquate Grenzsetzungen beim Verhalten nicht aus.

Im Gegensatz zu unsicher vermeidenden Kindern halten sich unsicher ambivalente Kinder oft in der Nähe der Lehrperson auf und können anklammernd und kontrollierend wirken. Untersuchungen zeigen, dass diese Kinder bei Lehrpersonen einerseits teilweise Fürsorglichkeit und Duldsamkeit auslösen, andererseits auf Lehrpersonen oft anstrengend wirken und dadurch eher kritisiert und zurückgewiesen werden als Kinder mit sicherem Bindungsverhalten. Auch hier besteht die Gefahr, dass sich frühere verunsichernde Interaktionen wiederholen, anstatt dass die Chance einer neuen, korrigierenden haltgebenden Interaktion genutzt wird.

Weniger Stress durch Bindung
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Fazit
Die Fähigkeit mit Stress und damit auch mit Schulleistungsdruck in unserer Gesellschaft umzugehen, ist nicht einfach im Menschen angelegt. Das angeborene Bindungsverhalten führt die Kinder zu ihren Bezugspersonen. Die Fähigkeit zur Stressregulation ist zu einem bedeutenden Teil das Ergebnis zwischenmenschlicher Interaktionen. Wesentliches ist zwar in der frühen Kindheit angebahnt, im prozeduralen Gedächtnis als Interaktionsmuster (innere Arbeitsmodelle) abgespeichert und sprachlich wenig zugänglich. Dennoch ist der Erhalt eines sicheren Bindungsverhaltens bzw. die Veränderung unsicheren Verhaltens von den weiteren Erfahrungen des Kindes abhängig, welche sich bis zum Jugendalter hin ausdehnen. Dabei ist es oft weniger entscheidend, wie lange und ausführlich Gespräche mit den Kindern geführt werden. Entscheidend ist die Qualität des Kontakts, welche sich oft in begleitenden nonverbalen Signalen in Stimme, Tonfall, Gestik und insbesondere im Blick zeigt. Ist der Unterricht so gestaltet, dass die Lehrperson ab und zu von Kind zu Kind gehen kann, bietet das Gelegenheit, um auch in kleinen Gesprächen oder durch unaufdringliche kurze, wertschätzende Bemerkungen Sicherheit zu vermitteln. Die dabei direkt an das Kind gerichteten, vordergründig unscheinbaren, aber bedeutungsvollen nonverbalen Signale (freundliche Stimme, zugewandte Haltung, das «Leuchten in den Augen»...) helfen einem Kind, sich sicher und aufgehoben zu fühlen. So in den Unterricht eingeflochtene ermutigende Bemerkungen können im Gehirn bereits neurobiologische Prozesse auslösen, welche Stressgefühle reduzieren und zudem z. B. prosoziales Verhalten, Aufmerksamkeit und Konzentration fördern. Auch die ritualisierte persönliche Begrüssung vor oder Verabschiedung nach dem Unterricht können z. B. ähnlich Sicherheit vermitteln.

Verbinden Sie sich mit dem Kind mit kleinen Aufmerksamkeiten (Stimme, Tonfall, Gestik). Das Kind wird es Ihnen danken.

Neben dem elterlichen Einfluss haben Beziehungserfahrungen mit den Bezugspersonen in der Schule beachtenswerten Einfluss einerseits auf den Erhalt eines sicheren Bindungsverhaltens und andererseits auf die Erweiterung neuer korrigierender Beziehungserfahrungen. Beides trägt bedeutend zur Weiterentwicklung der kindlichen Stressregulation und dadurch zu einem besseren Umgang mit Schulleistungsdruck bei, was wiederum bessere Voraussetzungen für Lernerfolg schafft.

*Kurt Bollhalder ist seit 1. Nov. 2010 Psychologe beim Schulpsychologischen Dienst des Kantons Zug. Zuvor war er 6 Jahre als Schulpsychologe in der Stadt Luzern tätig.

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