Navigieren auf Kanton Zug

Gerichtspraxis

Staats- und Verwaltungsrecht

Verfahrensrecht

Bau- und Planungsrecht

Steuerrecht

Sozialversicherung

Art. 9 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 23bis Abs. 3 IVV
Art. 21 IVG, Art. 2 HVI

Art. 25 AHVG i.V.m. Art. 49bis und Art. 49ter AHVV

Regeste:

Art. 25 AHVG i.V.m. Art. 49bis und Art. 49ter AHVV – Ein Praktikum, welches weder für die Zulassung zu einer Ausbildung gesetzlich oder reglementarisch vorausgesetzt oder faktisch notwendig ist, noch für den Ausbildungsabschluss verlangt wird, kann nicht als Ausbildung im Sinne von Art. 49bis AHVV qualifiziert werden (Erw. 4.2).

Aus dem Sachverhalt:

M. bezog eine Waisenrente. Sie schloss im Juni 2012 die gymnasiale Schulausbildung mit der Maturität ab. Die Mutter von M., R., reichte der Ausgleichskasse Ende September 2012 eine Praktikumsvereinbarung ein. Demgemäss sollte M. ab August 2012 bis spätestens Ende November 2012 bei Radio A. ein maximal dreimonatiges Praktikum absolvieren. Die Vereinbarung sah kein Entgelt vor, hielt als Ziel der Praktikantin sinngemäss fest, diese wolle ihrem Berufswunsch Journalistin entsprechend und im Hinblick auf ein entsprechendes Studium einen Einblick in die Medienwelt bekommen, aber auch ihre Motivation und Fähigkeit überprüfen. Als Ziel des Radios wurde erwähnt, der Praktikantin solle die Mitarbeit bei der Produktion von Beiträgen und Sendungen bzw. bei Projektarbeiten gewährt werden. Geregelt wurden sodann die Arbeitszeiten, die Einsatzfelder wie auch weitere, für Praktikumsstellen übliche Vertragspunkte. Mit Schreiben vom 7. November 2012 teilte die Ausgleichskasse R. mit, die Abklärungen hätten ergeben, dass M. keinen Anspruch auf Waisenrente mehr habe. Mit Verfügung vom 21. Dezember 2012 und Einspracheentscheid vom 15. Februar 2013 lehnte die Ausgleichskasse den Rentenanspruch von M. für die Zeit ab 30. Juni 2012 ab.

Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 8. April 2013 liess M., vertreten durch ihre Mutter R., sinngemäss beantragen, Verfügung und Einspracheentscheid seien aufzuheben und ihr sei für die Zeit des fraglichen dreimonatigen Praktikums die Waisenrente auszubezahlen.

Aus den Erwägungen:

(…)

2.

2.1 Kinder, deren Vater oder Mutter gestorben ist, haben Anspruch auf eine Waisenrente (Art. 25 Abs. 1 AHVG). Der Anspruch entsteht am ersten Tag des dem Tode des Vaters oder der Mutter folgenden Monats. Er erlischt mit der Vollendung des 18. Altersjahres oder mit dem Tod der Waise (Art. 25 Abs. 4 AHVG). Für Kinder, die noch in Ausbildung sind, dauert der Rentenanspruch bis zu deren Abschluss, längstens aber bis zum vollendeten 25. Altersjahr. Der Bundesrat kann festlegen, was als Ausbildung gilt (Art. 25 Abs. 5 AHVG). In Ausbildung ist ein Kind, wenn es sich auf der Grundlage eines ordnungsgemässen, rechtlich oder zumindest faktisch anerkannten Bildungsganges systematisch und zeitlich überwiegend entweder auf einen Berufsabschluss vorbereitet oder sich eine Allgemeinausbildung erwirbt, die Grundlage bildet für den Erwerb verschiedener Berufe. Als in Ausbildung gilt ein Kind auch, wenn es Brückenangebote wahrnimmt wie Motivationssemester oder Vorlehren sowie Au-pair- und Sprachaufenthalte, sofern sie einen Anteil Schulunterricht enthalten. Nicht als in Ausbildung gilt ein Kind, wenn es ein durchschnittliches monatliches Erwerbseinkommen erzielt, das höher ist als die maximale volle Altersrente der AHV (Art. 49bis Abs. 1 bis 3 der Verordnung über die Alters- und Hinterlassenenversicherung [AHVV, SR 831.101]). Mit einem Berufs- oder Schulabschluss ist die Ausbildung beendet (Art. 49ter Abs. 1 AHVV). Sie gilt auch als beendet, wenn sie abgebrochen oder unterbrochen wird oder wenn ein Anspruch auf eine Invalidenrente entsteht (Abs. 2). Nicht als Unterbrechung im Sinne von Absatz 2 gelten die folgenden Zeiten, sofern die Ausbildung unmittelbar danach fortgesetzt wird: a) übliche unterrichtsfreie Zeiten und Ferien von längstens 4 Monaten; b) Militär- oder Zivildienst von längstens 5 Monaten; c) gesundheits- oder schwangerschaftsbedingte Unterbrüche von längstens 12 Monaten (Abs. 3).

2.2

2.2.1 Die Wegleitung über die Renten in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung (RWL), Stand 1. Januar 2012, hält zum Rentenanspruch von Waisen in Ausbildung über das obig Ausgeführte hinaus das Folgende fest: Hinsichtlich Anerkennung eines Praktikums als Ausbildung wird in den Randziffern 3361 und 3361.1 noch einmal ausgeführt, dass ein Praktikum nur dann als Ausbildung anerkannt wird, wenn es gesetzlich oder reglementarisch für die Zulassung zu einem Bildungsgang oder zu einer Prüfung vorausgesetzt ist oder zum Erwerb eines Diploms oder eines Berufsabschlusses verlangt wird (Rz. 3361). Sind diese Voraussetzungen nicht erfüllt, kann es trotzdem als Ausbildung anerkannt werden, wenn vom Betrieb schriftlich zugesichert wird, dass das Kind bei Eignung nach Abschluss des Praktikums eine Lehrstelle im Betrieb erhält und das Praktikum höchstens ein Jahr dauert (Rz 3361.1). Weiter wird festgehalten, dass der Schulbesuch während des Praktikums nicht verlangt wird. Übt das Kind die praktische Tätigkeit allerdings nur aus, um sich dabei Branchenkenntnisse und Fertigkeiten anzueignen, um die Anstellungschancen zu verbessern oder die Berufswahl zu treffen, liegt keine Ausbildung vor. So hat das Bundesgericht im Falle eines Praktikums in einer Filmproduktionsfirma gegen eine Ausbildung entschieden (Rz. 3362). Bei Brückenangeboten zwischen der Schulzeit und der Anschlusslösung, einem Motivationssemester oder einer berufsorientierten Vorlehre, liegt eine Ausbildung vor, wenn ein Schulanteil von mindestens acht Lektionen pro Woche Bestandteil dieser Zwischenlösung ist (Rz. 3363). Kinder, deren Bruttoerwerbseinkommen über dem Betrag der maximalen vollen Altersrente liegt, erhalten keine Waisen- bzw. Kinderrente (Rz. 3366). (…)


Schliesslich wird in den Randziffern 3368 und 3369 ausgeführt, dass Abbruch und Unterbruch einer Ausbildung grundsätzlich einer Beendigung gleichkämen. Übliche Ferien und unterrichtsfreie Zeiten von längstens vier Monaten gelten nur dann als Ausbildungszeit, wenn sie zwischen zwei Ausbildungsphasen liegen, das heisst, die Ausbildung muss unmittelbar daran fortgesetzt werden. (…)

(…)

2.3

2.3.1 Der gesetzliche Begriff der Ausbildung kann verstanden werden im Sinne der beruflichen Ausbildung; andererseits geht es um Ausbildung aber auch dort, wo entweder von vornherein kein spezieller Berufsabschluss beabsichtigt und nur die Ausübung des betreffenden Berufes angestrebt wird oder wo es sich um eine Ausbildung handelt, die vorerst nicht einem speziellen Beruf dient. Unter allen Umständen ist eine systematische Vorbereitung auf eines der genannten Ziele hin erforderlich, und zwar auf der Grundlage eines ordnungsgemässen, rechtlich oder zumindest faktisch anerkannten (üblichen) Lehrganges. In allen Fällen muss sich sodann die strittige Vorkehr in dem von der Rechtsprechung umschriebenen Masse auf die Erwerbseinkünfte auswirken. Eine systematische Ausbildung verlangt, dass die betreffende Person die Ausbildung mit dem ihr objektiv zumutbaren Einsatz betreibt, um sie innert nützlicher Frist erfolgreich hinter sich zu bringen. Dabei setzt die Ausbildung den Willen voraus, einem im Voraus festgelegten Programm zu folgen, und die Absicht, dieses zu Ende zu führen. (…)

Ein Praktikum schliesslich gilt nicht nur dann als Ausbildung, wenn es reglementarisch vorgeschrieben ist, sondern auch dann, wenn seine Absolvierung im Sinne einer branchenüblichen Praxis für die Vergabe einer Lehrstelle vorausgesetzt wird (Verwaltungsgericht des Kantons Bern: BVR 2012 281, IV 200.2011.708). Nicht als Ausbildung zählt ein Praktikum hingegen, wenn es zwar wertvolle Branchenkenntnisse und Fertigkeiten vermittelt, die für eine spätere Tätigkeit in der betreffenden Branche unentbehrlich sind, wenn es aber an einem systematischen, strukturierten Lehrgang fehlt (9C_223/2008 Erw. 1.2). (…)

(…)

3.

3.1 Fest steht in casu, dass die Beschwerdeführerin bis Ende Juni 2012 die Kantonsschule in Zug besuchte, dass sie diese im Juni 2012 mit der Maturität abschloss und dass ihr ab 1. Juli 2012 die Ausrichtung der Waisenrente nach Art. 25 AHVG verwehrt wurde. Fest steht sodann, dass sie – im Hinblick auf die allfällige Studienwahl und den Berufswunsch einer Journalistin – in den Monaten August bis Oktober ein dreimonatiges Praktikum bei Radio A. absolvierte, dass sie ab November 2012 als Flight Attendant arbeitete bzw. arbeitet und dass sie einen Studienbeginn auf Herbst 2013, eventuell Herbst 2014 ins Auge fasst. Streitig ist, ob sie für die Zeit des Praktikums bei Radio A. Anspruch auf die Waisenrente hat, konkret ob das fragliche Praktikum als Ausbildung im Sinne von Gesetz und Praxis zu werten ist oder nicht.

(…)

4.1 Beurteilend ist vorliegend noch einmal daran zu erinnern, dass die Beschwerdeführerin ihre gymnasiale Ausbildung Ende Juni 2012 mit der Matura abschloss und im Herbst 2012 nicht umgehend ein Studium, sondern im Gegenteil eine Erwerbstätigkeit als Flight Attendant aufnahm. Damit wurde die Ausbildung – vorbehältlich der Qualifikation des Praktikums bei Radio A. als Ausbildung – für mehr als ein Jahr unterbrochen und galt mit der Matura als vorerst beendet. Das Praktikum bei Radio A. kann sodann nicht als Brückenangebot im Sinne von Art. 49bis Abs. 2 AHVV resp. im Sinne von Art. 12 des Berufsbildungsgesetzes (BBG, 412.10) i.V.m. Art. 7 der Berufsbildungsverordnung (BBV, SR 412.101) – Angebote der Volksschulträger oder Berufsbildungsämter am Ende der obligatorischen Schulzeit wie das sogenannte Berufsvorbereitungsjahr, das «10. Schuljahr» oder die Vorlehre (vgl. hierzu: Kieser/Reichmuth, Praxiskommentar FamZG, Zürich/St. Gallen 2010, Art. 3 Rz. 57) – qualifiziert werden, zumal es an der anschliessenden Weiterführung der Ausbildung mangelt und diesbezüglich insbesondere auch ein Anteil an eigentlichem Schulunterricht verlangt wäre. Die Kurse, die der Beschwerdeführerin im Rahmen des Praktikums bei Radio A. geboten wurden, können jedenfalls nicht als Schulunterricht im klassischen Sinne qualifiziert werden. Dies wurde indes auch nicht behauptet. Ob die während des Praktikums gewährten 14 ganztags- und sieben stundenweisen Kurse der quantitativen Anforderung von acht Wochenstunden Schulunterricht gerecht würden, kann demzufolge offenbleiben. Ohnehin wurden die drei Monate bei Radio A. von allen Beteiligten als Praktikum bezeichnet, so dass in der Folge einzig zu prüfen ist, ob dieses Praktikum im Sinne von Gesetz und Praxis als Ausbildung qualifiziert werden kann. Nach der bundesgerichtlichen Praxis und im Lichte zur Wegleitung RWL, soweit diese durch ebendiese Praxis bestätigt wird, gilt ein Praktikum, abgesehen vom Kriterium der Bezahlung, das hier nicht zu beachten ist, grundsätzlich dann als Ausbildung, wenn es gesetzlich oder reglementarisch für die Zulassung zu einem Bildungsgang oder zu einer Prüfung vorausgesetzt resp. zum Erwerb eines Diploms oder eines Berufsabschlusses verlangt wird, sowie wenn die branchenübliche Praxis für die Vergabe einer Lehrstelle bzw. eines Ausbildungsplatzes ein solches voraussetzt. Für die Anerkennung eines Praktikums als Ausbildung nicht entscheidend ist hingegen, ob im Anschluss an das Praktikum im selben Betrieb oder in einem anderen Betrieb eine Lehre bzw. eine Ausbildung angetreten wird, sondern einzig, ob das Praktikum für die Ausbildung faktisch notwendig ist. Steht ein Praktikum indes nicht im obig skizzierten Ausbildungskontext und vermittelt es dem «Kind» zwar wertvolle Branchenkenntnisse und Fertigkeiten, die für eine spätere Tätigkeit in der betreffenden Brache unentbehrlich sind bzw. seine Anstellungschancen verbessern oder für die richtige Berufswahl hilfreich sind, so liegt nach der höchstrichterlichen Praxis keine Ausbildung vor. Das Praktikum der Beschwerdeführerin bei Radio A. ist bzw. war unbestrittenermassen weder Voraussetzung für die Zulassung zu einem Bildungsgang oder zu einer Prüfung, noch für den Erwerb eines Diploms oder eines Berufsabschlusses verlangt. Auch bestand keine im Hinblick auf eine angestrebte Ausbildung faktische Notwendigkeit für dieses Praktikum. Jedenfalls wird die Zulassung zu universitären Ausbildungsgängen in Richtung Journalistik nicht von entsprechenden Praktika abhängig gemacht und die Beschwerdeführerin behauptete denn auch zu keiner Zeit, das Praktikum für die Zulassung zur Ausbildung bei einem bestimmten Medium, einer bestimmten Zeitung oder einem bestimmten Radio- oder Fernsehsender zu benötigen. Aus ihren Angaben geht vielmehr unzweideutig hervor, dass sie das Praktikum absolvieren wollte, weil sie hinsichtlich Berufswahl noch unsicher war und entsprechend einen konkreten Einblick in die Branche erhalten wollte. Dass sie dadurch wichtige Branchenkenntnisse und Fertigkeiten erlernen, ihre späteren Anstellungschancen erhöhen und für die definitive Berufswahl die notwendigen Einblicke erlangen konnte, führt jedenfalls nicht dazu, das fragliche Praktikum entgegen Lehre und Praxis als Ausbildung zu qualifizieren. Daran ändern weder der Umstand, dass das Praktikum bei Radio A. jedenfalls nach den Akten zu schliessen den Eindruck eines durchaus systematischen und strukturierten Lehrgangs vermittelt, noch die Tatsache, dass die Familie der Beschwerdeführerin auf die Rentenleistungen angewiesen war, irgend etwas.

(…)

4.2 Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Praktikum der Beschwerdeführerin weder für die Zulassung zu einer Ausbildung gesetzlich oder reglementarisch vorausgesetzt oder faktisch notwendig war, noch dass es für den Ausbildungsabschluss verlangt war. Vielmehr verhalf es ihr «lediglich» zu einem umfassenden Einblick in die Medienwelt, welcher ihr, sollte sie demnächst wirklich ein entsprechendes Studium beginnen wollen, sicherlich von Nutzen sein wird. Zur Qualifikation des Praktikums als Ausbildung im Sinne von Art. 49bis AHVV genügt dies im Lichte der Praxis allerdings ganz klar nicht. (…)

Nach dem Gesagten erweisen sich Verfügung und Einspracheentscheid als korrekt, die Beschwerde entsprechend als unbegründet, so dass sie abzuweisen ist.

(…)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 13. Juni 2013 S 2013 39

Weitere Informationen

Fusszeile

Deutsch