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Art. 9 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 23bis Abs. 3 IVV

Regeste:

Art. 9 Abs. 1 IVG i.V.m. Art. 23bis Abs. 3 IVV – Die Schulung im Ausland stellt in casu einen beachtlichen Grund im Sinne von Art. 23bis Abs. 3 IVV für die Durchführung von medizinischen Massnahmen im Ausland dar (Erw. 4.3.2).

Aus dem Sachverhalt:

Bei C., geboren (…) 1996, wurde im Alter von knapp sechs Jahren Asperger Autismus (Geburtsgebrechen Ziffer 405: «frühkindlicher Autismus») diagnostiziert. Die IV-Stelle des Kantons Zug sprach ihr in der Folge unter anderem medizinische Massnahmen und Sonderschulmassnahmen zu. Im Sommer 2011 wechselte C. an die Privatschule T. Mit zwei separaten Verfügungen vom 16. November 2011 erteilte die IV-Stelle C. zur Behandlung des Geburtsgebrechens Kostengutsprache für medizinische Massnahmen vom 1. Dezember 2011 bis 30. April 2016 und für ambulante Psychotherapie vom 7. Juni 2011 bis 30. Juni 2013. Mit Schreiben vom 9. April 2013 wandten sich die Eltern von C. an die IV-Stelle und teilten mit, ihre Tochter besuche seit Oktober 2012 die Schule V.S.(nachfolgend V.S.) in den USA. Sie benötige auch dort weiterhin Psychotherapie, weshalb die IV-Stelle um Übernahme der Kosten ersucht werde. Die IV-Stelle wies das Leistungsbegehren nach Rücksprache mit dem Regionalen Ärztlichen Dienst (RAD) Zentralschweiz und dem Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) mit Vorbescheid vom 17. Mai 2013 sowie Verfügung vom 2. Juli 2013 ab, da die Voraussetzungen für eine Kostenübernehme für Behandlungen im Ausland (Art. 23bis IVV) nicht erfüllt seien.

Gegen diese Verfügung liess C., gesetzlich vertreten durch ihre Eltern, mit Eingabe vom 20. August 2013 Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben und beantragen, die Verfügung sei aufzuheben und es sei das Gesuch um Kostengutsprache für medizinische Massnahmen im Ausland gutzuheissen, eventualiter sei die Sache zur Neubeurteilung an die Beschwerdegegnerin zurück zu weisen.

Aus den Erwägungen:

(…)

3. Gemäss Art. 13 Abs. 1 IVG haben Versicherte bis zum vollendeten 20. Altersjahr Anspruch auf die zur Behandlung von Geburtsgebrechen notwendigen medizinischen Massnahmen. Medizinische Massnahmen umfassen zum einen die Behandlungen, die vom Arzt selbst oder auf seine Anordnung durch medizinische Hilfspersonen in Anstalts- und Hauspflege vorgenommen werden, mit Ausnahme von logopädischen und psychomotorischen Therapien, und zum andern die Abgabe der vom Arzt verordneten Arzneien (Art. 14 Abs. 1 IVG). Artikel 9 Abs. 1 IVG bestimmt, dass Eingliederungsmassnahmen – zu denen auch die medizinischen Massnahmen im Sinne von Art. 12 ff. IVG gehören – in der Schweiz, ausnahmsweise auch im Ausland, gewährt werden. Artikel 23bis der Verordnung über die Invalidenversicherung vom 17. Januar 1961 (IVV, SR 831.201) konkretisiert Art. 9 Abs. 1 IVG, indem er die Voraussetzungen für die Gewährung von Eingliederungsmassnahmen im Ausland näher umschreibt. So übernimmt die IV die Kosten einer einfachen und zweckmässigen Durchführung im Ausland in Fällen, in denen sich die Durchführung einer Eingliederungsmassnahme in der Schweiz – insbesondere wegen Fehlens der erforderlichen Institutionen oder Fachpersonen – als unmöglich erweist (Art. 23bis Abs. 1 IVV), oder wenn es sich um notfallmässig im Ausland durchgeführte medizinische Massnahmen handelt (Art. 23bis Abs. 2 IVV). Artikel 23bis Abs. 3 IVV statuiert zudem eine Kostenvergütungspflicht der IV bis zum Umfang, in welchem die Leistungen in der Schweiz zu erbringen gewesen wären, wenn eine Eingliederungsmassnahme aus anderen beachtlichen Gründen im Ausland durchgeführt wird.

(…)

4.2 (…) Fraglich und nachfolgend eingehender zu prüfen ist aber, ob im vorliegenden Fall «beachtliche Gründe» im Sinne von Abs. 3 des Art. 23bis IVV vorliegen, welche die Übernahme der Kosten für Massnahmen im Ausland bis zu dem Umfang, in welchem solche Leistungen in der Schweiz zu erbringen gewesen wären, gebieten:

4.3

4.3.1 Das EVG führte in BGE 110 V 99 Erw. 1 aus, die Voraussetzungen des Art. 23bis Abs. 2 IVV (nunmehr Abs. 3) würden offensichtlich weniger weit gehen als diejenigen von Abs. 1. Dies ergebe sich schon allein aus dem Wortlaut der beiden Bestimmungen und stehe zudem im Einklang damit, dass die Leistungen nach Abs. 2 weniger umfassend seien als diejenigen nach Abs. 1. Die Anforderungen an das Vorliegen beachtlicher Gründe dürften nicht überspannt werden, da ansonsten die Abgrenzung zu den Voraussetzungen des Abs. 1 schwierig würde. Sodann habe der Bundesrat mit Abs. 2 bewusst eine neue Leistungsmöglichkeit eingeführt, welche nicht toter Buchstabe bleiben dürfe. Im Weiteren sei eine enge Auslegung auch deshalb nicht gerechtfertigt, weil die Invalidenversicherung mit dieser neuen Leistungsmöglichkeit ja nicht stärker belastet werde, als wenn die Massnahme in der Schweiz durchgeführt würde. Schliesslich könne es sich auch nicht darum handeln, die Invalidenversicherung zu entlasten aus dem einzigen Grunde, dass sich der Versicherte aus beachtlichen Gründen im Ausland habe behandeln lassen. In später ergangenen höchstrichterlichen Entscheiden ist nachzulesen, dass beachtliche Gründe, obgleich Abs. 2 (nunmehr Abs. 3) nicht eng auszulegen sei, lediglich solche von erheblichem Gewicht sein könnten, weil sonst nicht nur Abs. 1 von Art. 23bis IVV bedeutungslos, sondern auch Art. 9 Abs. 1 IVG unterlaufen würde, wonach Eingliederungsmassnahmen (nur) «ausnahmsweise» im Ausland zu gewähren seien (vgl. etwa Urteile des EVG I_281/2000 vom 13. Februar 2001 Erw. 1 und I_120/2004 vom 16. Mai 2006 Erw. 4.1). Beachtliche Gründe liegen etwa dann vor, wenn eine besonders seltene Krankheit vorliegt, mit welcher in der Schweiz tätige Spezialisten noch kaum konfrontiert worden sind und deren Behandlung eine genaue Diagnose erfordert oder die einer besonders komplizierten Behandlung bedarf, was vom EVG beispielsweise im Zusammenhang mit einer seltenen und besonders komplexen Form von Epilepsie bei einem kleinen Kind anerkannt wurde (Urteile des EVG I_161/2002 vom 28. November 2002, I_281/2000 vom 13. Februar 2001 und I_740/1999 vom 21. Juli 2000). Sodann können beachtliche Gründe vorliegen, wenn die vorangegangen, im Inland verfügbaren Therapien erfolglos waren, oder wenn ein durch die nachhaltige Empfehlung der behandelnden Ärzte geschaffenes alleiniges Vertrauen in die neue, im Inland nicht verfügbare Therapieform geschaffen wurde (Urteil des EVG I_120/2004 vom 16. Mai 2006 Erw. 4.2.1, vgl. auch die Urteile I_601/2006 vom 12. März 2008 Erw. 5.5.3 und 8C_800/ 2009 vom 1. Juni 2010 Erw. 2.2.2; Bucher, a.a.O., Rz. 294 ff.). Im Entscheid vom 1. September 2011 i.S. X gegen die IV-Stelle des Kantons Freiburg (Beschwerde 605 2009–329), in dem es um die Leistungspflicht der IV für die operative Behandlung einer Hypospadie in Deutschland ging, warf der Sozialversicherungsgerichtshof des Kantonsgerichts Freiburg neben der Verunsicherung der Eltern des minderjährigen Patienten aufgrund ärztlicher Erläuterungen und der grösseren Erfahrung der Ärzte im Ausland auch das Vorbringen der Eltern, wonach die Betreuung der beiden anderen Kinder während der Dauer des Spitalaufenthalts in Deutschland durch Familienangehörige in Deutschland gewährleistet sei, in die Waagschale und ging unter den gesamten Umstanden von beachtlichen Gründen für die Auslandbehandlung im Sinne von Art. 23bis Abs. 3 AHVV aus (SVR 2012 IV Nr. 37). Im Kreisschreiben des Bundesamts für Sozialversicherungen über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung (KSME), gültig ab 1. März 2012, wird – neben den oben genannten, in erster Linie medizinischen Gründen – auch ein längerer Geschäfts- oder Sprachaufenthalt im Ausland als beachtlicher Grund für die Durchführung medizinischer Massnahmen im Ausland genannt (Rz. 1239 KSME).

4.3.2 Im Fall der Beschwerdeführerin geht aus den Akten hervor, dass sie ab August 2011 das 9. Schuljahr  an der Privatschule T. besuchte und dort auch gerne im Schuljahr 2012/2013 das 10. Schuljahr absolviert hätte. Am 10. Juli 2012 erfuhren die Eltern der Beschwerdeführerin vom Rektor der Privatschule T. per E-Mail, dass ihre Tochter im folgenden Schuljahr nicht mehr an der Privatschule T. unterrichtet werden könne, da die Schule nicht im Stande sei, ihr Verhalten «angemessen zu quittieren und zu begleiten, und damit auch eine aktive Förderung von ihr zu gewährleisten». Gleichzeitig machte der Rektor den Eltern das Angebot, ihre Tochter nach den Sommerferien während einer Übergangszeit bis maximal Ende September 2012 wieder an der Privatschule T. aufzunehmen. Dass es für die Eltern der Beschwerdeführerin – wie von diesen vor Verwaltungsgericht vorgebracht – während den Sommerferien schwierig oder sogar unmöglich war, eine Alternative in der Schweiz zu finden, ist durchaus plausibel. Es darf aber davon ausgegangen werden, dass spätestens bis Ende September 2012 eine angemessene Schulungsmöglichkeit in der Schweiz hätte gefunden werden können. Wie das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) in der Stellungnahme vom 13. Mai 2013 festhielt, gibt es auch in der Schweiz eine spezielle, integrative Förderung für Minderjährige mit Asperger Autismus. Die Eltern der Beschwerdeführerin zogen indes die Besichtigung der V.S. in den USA während der Sommerferien 2012 vor und erachteten diese Schule als für ihre Tochter geeignet. Seit Oktober 2012 besucht die Beschwerdeführerin nun die V.S. Es besteht kein Anlass, am Vorbringen der Eltern, wonach ihre Tochter an dieser Schule optimal geschult und gefördert werde, zu zweifeln. Angesichts der Tatsache, dass die Eltern der Beschwerdeführerin im Sommer 2012 unter erheblichem Zeitdruck standen, dass mit der Weiterführung der Schulung an der V.S. ein Schulwechsel während des Schuljahrs verhindert werden konnte und dass es sich bei der V.S. offenbar um eine Schule handelt, die sich – unter anderem – auf die Schulung von Kindern mit Asperger Autismus spezialisiert hat, erscheint die Entscheidung der Eltern der Beschwerdeführerin, ihre Tochter in diese Schule zu geben, als verständlich und nachvollziehbar. Dies sahen offenbar auch der Rektor und der Schulpräsident der Schule U. so, teilten diese den Eltern der Beschwerdeführerin doch mit Schreiben vom 27. Februar 2013 mit, angesichts der speziellen Situation und der Schulung in einer spezialisierten Schule in den USA beteilige sich die Gemeinde in dem Betrag an den Schulungskosten, welcher für das 10. Schuljahr an der Privatschule T. bezahlt worden wäre. Ob nun für die Schulung im Ausland ein «beachtlicher Grund» im Sinne von Art. 23bis Abs. 3 IVV vorliegt, kann dahingestellt bleiben, denn der «beachtliche Grund» muss nicht etwa für den Auslandaufenthalt an sich, sondern für die Durchführung der medizinischen Massnahme im Ausland gegeben sein, was in casu gerade aufgrund des Schulbesuchs im Ausland und der Tatsache, dass die Beschwerdeführerin während ihres Auslandaufenthalts auf eine psychotherapeutische Begleitung angewiesen ist, zu bejahen ist. Aus welchen Gründen der vorliegende Fall anders als etwa derjenige eines längeren Geschäfts- oder Sprachaufenthalts im Ausland (Rz. 1239 KSME) zu behandeln wäre, ist nicht ersichtlich, zumal der Entscheid der Eltern der Beschwerdeführerin, diese in die V.S. zu geben, angesichts der gesamten Umstände begreiflich ist. Vor dem Hintergrund von Rz. 1239 KSME ist die Empfehlung des BSV vom 13. Mai 2013 im Übrigen nicht einleuchtend, geht es doch vorliegend nicht um die Übernahme der Schulungskosten, sondern lediglich der während des Auslandaufenthalts anfallenden Behandlungskosten. Anzufügen bleibt, dass der Invalidenversicherung aufgrund der Behandlung im Ausland keine Mehrkosten entstehen. Sie hat die Kosten maximal bis zum Umfang zu vergüten, in welchem solche Leistungen in der Schweiz zu erbringen gewesen wären. Zur Prüfung der Frage, in welchem Umfang die Kosten von der IV zu übernehmen sind, und zum Neuentscheid über das Kostengutsprachegesuch der Beschwerdeführerin ist die Sache an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen.

(…)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 14. November 2013 S 2013 106

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