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30.09.2018

«Ganz einfach: Pragmatisch»

30.09.2018
Im Kompetenzrausch – Bei uns im Kanton Bern hat das Schuljahr mit dem Lehrplan 21 begonnen. Seither müssen wir Lehrer den neuen Lehrplan 21 umsetzen. Es handelt sich um ein Werk von Theoretikern, ...
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Im Kompetenzrausch – Bei uns im Kanton Bern hat das Schuljahr mit dem Lehrplan 21 begonnen. Seither müssen wir Lehrer den neuen Lehrplan 21 umsetzen. Es handelt sich um ein Werk von Theoretikern, das kaum praxistauglich ist.

Von Alain Pichard*

Natürlich werden meine lehrplankritischen Mitstreiter und ich derzeit oft – mitunter etwas hämisch – gefragt, wie wir nun mit dem Lehrplan 21 gestartet seien. Denn ab diesem August ist bei uns das verheissungsvolle Dokument in Kraft, das unsere Schüler von einem verstaubten zu einem zeitgemässen Unterricht führen soll. Die süffisanten Bemerkungen nehmen wir mittlerweile gelassen entgegen. Wir, das sind Kolleginnen und Kollegen zweier Oberstufenzentren im Raume Biel, die seinerzeit das Memorandum «550 gegen 550» lancierten. Wie setzen wir nun diesen neuen Lehrplan um, den wir lange bekämpft haben? Ganz einfach: pragmatisch.

Unter uns gibt es niemanden, der seinen Unterrichtserfolg mit dem blossen Nachvollzug von Schulwissen gleichsetzt, wie dies den Lehrkräften des Landes oft angedichtet wird. In unserem Berufsverständnis geht es immer um das Verstehen, Durcharbeiten und Anwenden des Stoffes durch unsere Schüler, also um zunehmendes Können in unseren Fächern. Im Übrigen sind Lesen, Rechnen und Schreiben klassische Kompetenzen, und zwar entscheidende. Sie sind einiges wichtiger als beispielsweise das im Lehrplan 21 formulierte Kompetenzziel: «...können ihren Körper sensomotorisch wahrnehmen und musikbezogen reagieren».

Für viele von uns bleibt dieser Lehrplan 21 fremd und in weiten Teilen ein «albernes Geschwafel». Selbst in unserem nördlichen Nachbarland, das den Weg zur Kompetenzorientierung bereits vor Jahren vollzogen hat (und mächtig darunter leidet), lacht man über die Beflissenheit der Schweizer, die wieder einmal alles besonders gut machen wollen.

Die Idee, einen derart detaillierten Kompetenzkatalog aufzulegen, stammt von Theoretikern. Sie glauben, den Prozess des Erwerbs von Kompetenzen über alle Schulstufen hinweg systematisch aufbauen zu können. Und sie ignorieren völlig, dass die Unterrichtssituationen in der Schweiz überall verschieden sind. So unterrichte ich derzeit hauptamtlich am Oberstufenzentrum Orpund eine Klasse, in der vier Schüler zu Hause kein Deutsch sprechen. Gleichzeitig habe ich auch Lektionen in einer Klasse in einem Oberstufenzentrum in Biel (Luftlinie: 1,5 km), in der lediglich drei Schüler zu Hause Deutsch sprechen. In den Masterplänen der Theoretiker kommen die Schwierigkeiten des Alltags grundsätzlich nicht vor.

Umerziehungsprogramm
Der Lehrplan 21 allein war ja nie das eigentliche Problem – abgesehen von seinem radikalen Innovationsanspruch. Er ist dermassen praxisfern und nebulös formuliert, dass man ihn geradezu unterlaufen muss. Die Kernproblematik liegt in der Tatsache, dass er Teil einer grösseren Entwicklung ist, die sich nach und nach durchsetzt.

Mit Harmos wurde der Bevölkerung seinerzeit ein Harmonisierungsprojekt verkauft, das sich in Wirklichkeit aber als eine Steuerungsvorlage erwies: Hier wurden die Weichen in Richtung Kompetenzorientierung, Standardisierung, Vermessungswahn und Output-Orientierung gestellt.

Eine Allianz aus Politik, Verwaltung und Wissenschaft verfolgt ihre eigenen Interessen, die nur bedingt etwas mit einer gesunden Entwicklung unserer Schule zu tun haben. Es geht um Kontrolle und Auftragssicherheit. Der klassische Konflikt zwischen Basis und Überbau ging in den ersten Runden klar an den Überbau. Das ständig wachsende Heer an Test- und Lehrplanentwicklern, Lehrmittelherstellern, Schulmanagern, Lernberatern, Evaluationisten, Funktionären oder PH-Dozenten sichert sich mit eifriger Unterstützung unserer Lehrerverbände seinen Anteil an dem ständig wachsenden Bildungskuchen.

Die Folge sind Kompetenzraster, neue Beurteilungsformen, Bewertung überfachlicher Kompetenzen, siebenseitige Beobachtungsfragebögen im Kindergarten, flächendeckende Tests in der Nordwestschweiz, Change-Management-Papiere im Thurgau, Umbau des Hauswirtschaftsunterrichts, eine abenteuerliche Fremdsprachendidaktik, «Classroom Walkthrough»-Kontrollen der Schulleitungen, neue Inklusionskonzepte, die derzeit auf die Schulen unseres Landes niederprasseln.

Für eine Bilanz ist es sicher noch viel zu früh. Aber erste Auswirkungen sind benennbar: Kindergärtnerinnen müssen Windeln wechseln, Dreizehnjährige sich für Schnupperlehren bewerben, Arbeitsgesetze mit Ausnahmeklauseln versehen werden, weil die Lehrlinge zu jung sind. Die Anzahl der Lehrabbrüche steigt, mit einer untauglichen Fremdsprachendidaktik wird unsere französische Landessprache an die Wand gefahren, und der bei uns beliebte Hauswirtschaftsunterricht wird zugunsten eines «ideologiebefrachteten Umerziehungsprogramms» in einen Theorieunterricht verwandelt.

Die neuen «professionellen Leitungsstrukturen» dienen nun der Umsetzung. «Implementierung» heisst hier das immer häufiger auftauchende Zauberwort. Ein Wort, das die Erwartung weckt, man könne an den Schulen herumschrauben, ähnlich, wie ein Algorithmus es mit Programmen tut. Und so werden kritische Lehrkräfte vermehrt drangsaliert oder mit den «sanften Methoden des Change- Managements» gefügig gemacht. Dahinter stehen die wirtschaftsfreundlichen Lobbygruppen, Stiftungen, Think-Tanks oder internationalen Organisationen, in ihrem Geist von der Handschrift einer neoliberalen Ideologie geprägt, die unsere Bildungsideale als überholt betrachten.

Die Theorie bleibt wichtig
Damit keine Missverständnisse entstehen: Ich bin dezidiert der Auffassung, dass eine an aktuellen Problemen orientierte Pädagogik eine starke theoretische Basis braucht, um im Nebel des Geschehens Strukturen zu erkennen und eigene praktische Erfahrungen zu hinterfragen. Deshalb haben sich die «Widerständler» vergangenen Juni in Olten getroffen und die Gründung eines Bildungsblogs beschlossen. Dieser Blog soll in einer zunehmend monotonen und monopolisierten Medienlandschaft die Flamme der Debatte und der kritischen Auseinandersetzung in die Öffentlichkeit tragen.

Der Condorcet-Blog, benannt nach dem französischen Aufklärer und Bildungsphilosophen Jean-Marie Caritat de Condorcet (1743- 94), der sich als kultureller Neuerer der Moderne gegen jegliche Tyrannei wendete, wird im Februar 2019 starten. Im Oktober erscheint auch der 2. Einspruch, die Broschüre, welche sich mit den heutigen Bildungsreformen kritisch auseinandersetzt. Diesmal mit Beiträgen von betroffenen Eltern, Lehrkräften und Ausbildnern.

Und schliesslich lädt der lehrplankritische Professor Reichenbach am 2./3. November 2019 zu einer Öffentlichen Tagung in Zürich ein, die sich mit dem Thema "Das gesellschaftliche Bild und die pädagogische Bedeutung der Lehrberufe" beschäftigt. Mit dabei renommierte und Professoren aus dem In- und Ausland.

Man sieht: Die Vertreter des Überbaus werden nach ihren Abstimmungssiegen keine Ruhe erhalten. Sie sind aber freundlich eingeladen, sich in substanziellen Debatten mit unseren Argumenten auseinanderzusetzen.

Lasst uns in Ruhe arbeiten
Den Eltern ist zu raten, im Zweifelsfall der Weisheit der Praxis zu vertrauen, denn das Herz der Unterrichtsentwicklung ist der Einfallsreichtum der Lehrkräfte, die je den richtigen Mix für ihre Situation finden müssen. Das Schweizer Schulwesen war bis anhin recht stabil, seine Resultate liessen sich sehen. Vielleicht ist es ein frommer Wunsch: Aber man sollte uns in Ruhe arbeiten lassen, auch mit diesem Lehrplan. Methodenfreiheit, zurückhaltende Behörden und die Erkenntnis, dass Schulen am meisten von anderen Schulen lernen, werden sich auszahlen, zum Wohle unserer Kinder.

*Alain Pichard ist Lehrer in Orpund (BE) und Gemeindepolitiker (GLP) in Biel. Einige Informationen zum Aufbau des Blogs finden sich (Link:) hier.



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