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Art. 229 Abs. 3 und 317 Abs. 1 ZPO

Regeste:

Art. 229 Abs. 3 und 317 Abs. 1 ZPO – Im  Berufungsverfahren soll in Bezug auf  Noven jedenfalls dann die gleiche Regel gelten wie im erstinstanzlichen Verfahren, wenn die umfassende Untersuchungsmaxime zur Anwendung gelangt.

Aus den Erwägungen:

5.3 (...) Grundsätzlich werden gemäss Art. 317 Abs. 1 ZPO neue Tatsachen und Beweismittel im Berufungsverfahren nur noch berücksichtigt, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden (lit. a) und wenn sie trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten
(lit. b). Letzteres Erfordernis ist vorliegend nicht erfüllt.

Nach Art. 296 ZPO gelten für alle Kinderbelange die Offizialmaxime und der Untersuchungsgrundsatz. Art. 296 ZPO übernimmt inhaltlich vollumfänglich die Regelung des bisherigen Rechts. Der Untersuchungs- und Offizialgrundsatz kommt daher bei Kinderbelangen in allen familienrechtlichen Verfahren und in allen Verfahrensstadien als allgemeiner Grundsatz zur Anwendung. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Art. 229 Abs. 3 ZPO – der grundsätzlich für das Verfahren vor erster Instanz bestimmt ist – im Berufungsverfahren analog anzuwenden ist. Art. 229 Abs. 3 ZPO schreibt vor, dass das Gericht neue Tatsachen und Beweismittel bis zur Urteilsberatung zu berücksichtigen hat, wenn der Sachverhalt von Amtes wegen abzuklären ist. Das Bundesgericht hat diese Frage dahingehend beantwortet, dass aus der Systematik des Gesetzes klar folge, dass Art. 229 Abs. 3 ZPO nur auf Verfahren vor der ersten Instanz anwendbar sei. Art. 317 ZPO betreffe das Berufungsverfahren und enthalte keinen Verweis, auch keine Spezialregel für das vereinfachte Verfahren oder für den Fall, wo der Richter den Sachverhalt von Amtes wegen ermittle. Wenn der Richter den Sachverhalt von Amtes wegen erheben müsse, bedeute dies, dass er selber Beweisvorkehren anordnen und den Sachverhalt, wie er ihm präsentiert worden sei, vervollständigen könne. Die Untersuchungsmaxime sage nicht, bis zu welchem Zeitpunkt die Parteien selber neue Tatsachen oder neue Beweismittel anrufen könnten. Diese Frage sei für die erste Instanz in Art. 229 Abs. 3 ZPO und für die Berufung in Art. 317 Abs. 1 ZPO geregelt (BGE 138 III 625 E. 2.2 = Pra 2013 Nr. 26). Nach Auffassung des Bundesgerichts sind demnach Noven im Berufungsverfahren bei Geltung des Verhandlungs- und auch des Untersuchungsgrundsatzes nur noch zulässig, wenn es sich um echte Noven handelt oder wenn unechte Noven trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgebracht werden konnten. Diese bundesgerichtliche Rechtsprechung wird in der Literatur weitgehend kritisiert. Das Bundesgericht begründet seine Auffassung damit, dass es im bundesrätlichen Entwurf bei der Berufung noch geheissen habe, Noven könnten sinngemäss nach den erstinstanzlichen Regeln vorgebracht werden und damit bei Anwendbarkeit des Untersuchungsgrundsatzes bis zur Urteilsberatung. Dieser Verweis sei aber im Gesetzgebungsverfahren gestrichen worden. Für eine sinngemässe Anwendung dieser Regel bleibe damit im Berufungsverfahren kein Raum mehr. Die Materialien zeigen jedoch ein anderes Bild, wie insbesondere Christoph Leuenberger und Benedikt Seiler nachweisen. Aus dem Protokoll der nationalrätlichen Beratungen, auf welches das Bundesgericht in seinem Entscheid verweist, ging es um die Frage, ob die Berufungsinstanz Noven generell, also unabhängig vom anwendbaren Verfahrensgrundsatz, unbeschränkt zuzulassen habe, was abgelehnt wurde. Eine Novenbeschränkung im Bereich der Untersuchungsmaxime stand dabei nicht in Frage. Bundesrätin Widmer-Schlumpf führte aus, Noven sollten vor der Berufungsinstanz im gleichen Rahmen, wie es zuletzt im erstinstanzlichen Verfahren möglich gewesen sei, vorgebracht werden können (AB 2008 N 1633 f.). Dies blieb unwidersprochen. Damit wurde der Grundsatz festgehalten, dass im Berufungsverfahren in Bezug auf die Noven die gleiche Regel gelten soll wie im erstinstanzlichen Verfahren, was bedeutet, dass bei Geltung des Untersuchungsgrundsatzes Noven bis zur Urteilsberatung des Berufungsverfahrens vorgebracht werden können. Dem entspricht, dass die Verfahrensmaximen, die den erstinstanzlichen Prozess bestimmt haben, als allgemeine Grundsätze auch im Berufungsverfahren weitergelten (Leuenberger, ZBJV 2013, S. 252 ff. mit zahlreichen Verweisen, und ZBJV 2014, S. 23 f.; Seiler, Die Berufung nach ZPO, Basel 2013, Rz. 1264a). Demzufolge muss jedenfalls Art. 229 Abs. 3 ZPO dann analog auch im Berufungsverfahren gelten, soweit Kinderbelange betroffen sind und die umfassende Untersuchungsmaxime zur Anwendung gelangt (vgl. Spycher, Berner Kommentar, 2012, N 9 zu Art. 296 ZPO mit zahlreichen Verweisen; Gloor, Handbuch des Unterhaltsrechts, 2. A., 2010, Rz. 11.20; Beschluss und Urteil des Zürcher Obergerichts vom 8. Mai 2013 [LC130019-O/U]).

Obergericht, I. Zivilabteilung, 8. Juli 2014

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