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Art. 257 ZPO

Regeste:

Art. 257 ZPO – Das Gericht tritt auf ein Gesuch um schnellen  Rechtsschutz nur ein, wenn der Sachverhalt unbestritten oder sofort beweisbar und – kumulativ – die Rechtslage klar ist. Nicht unter den Begriff des klaren Rechts fallen in der Regel Normen, die einen Ermessens- oder Billigkeitsentscheid des Gerichts mit wertender Berücksichtigung der gesamten Umstände erfordern.

Aus dem Sachverhalt:

Die Erbengemeinschaft A. beabsichtigte den Bau von vier Mehrfamilienhäusern und Einstellhalle auf ihrem Grundstück. Der Gemeinderat bewilligte eine Änderung der vorgesehenen Zufahrtsstrasse, welche neu teilweise über das Grundstück von B. und C. verlaufen soll. Das Grundstück von B. und C. ist u.a. mit einem Fuss- und Fahrwegrecht sowie einem Baurecht für eine Böschung und eine Zufahrtsstrasse zugunsten des Grundstücks der Erbengemeinschaft belastet. Die Erbengemeinschaft gelangte an den Einzelrichter des Kantonsgerichts Zug und beantragte, B. und C. sei die Entfernung sämtlicher künstlicher Einrichtungen (Spielplatz) auf deren Grundstück zu befehlen. Der Einzelrichter hiess das Gesuch gut. Dagegen erhoben B. und C. Berufung beim Obergericht.

Aus den Erwägungen:

(...)

4. Die Vorinstanz stellt in ihrem Entscheid die Voraussetzungen des Rechtsschutzes in klaren Fällen gemäss Art. 257 ZPO richtig dar, worauf verwiesen werden kann. Demnach tritt das Gericht auf ein Gesuch um schnellen Rechtsschutz ein, wenn der Sachverhalt unbestritten oder sofort beweisbar und – kumulativ – die Rechtslage klar ist. Die letztere Voraussetzung ist erfüllt, wenn die Anwendung und Auslegung einer Norm, namentlich aufgrund ihres Wortlauts, der Rechtsprechung und der bewährten Lehre, zu keinem Zweifel Anlass gibt. Die Rechtsfolge muss sich bei der Anwendung des Gesetzes unter Berücksichtigung von Lehre und Rechtsprechung ohne Weiteres ergeben und die Rechtsanwendung damit zu einem eindeutigen Ergebnis führen (Sutter-Somm/Lötscher, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], a.a.O., Art. 257 N 9; Urteil des Bundesgerichts 4A_447/2011 vom 20. September 2011 E. 2.3 und 4A_273/2012 vom 30. Oktober 2012 E. 5.1.2). Nicht unter den Begriff des klaren Rechts fallen Normen, die einen Ermessens- oder Billigkeitsentscheid des Gerichts mit wertender Berücksichtigung der gesamten Umstände erfordern, wie dies namentlich bei der Beurteilung von Treu und Glauben zutrifft (BGE 138 III 123 E. 2.1.2 S. 126; Sutter-Somm/Lötscher, a.a.O., Art. 257 N 11).

4.1 Die Gesuchsgegner erachten das Gebot der schonenden Rechtsausübung nach Art. 737 Abs. 2 ZGB verletzt, indem die Vorinstanz sie dazu verpflichtet habe, die Spielgeräte zu entfernen, obschon für die Zufahrtstrasse noch keine Baubewilligung vorliege und mithin auch noch nicht feststehe, ob die Dienstbarkeit ausgeübt werden dürfe.

4.2 Grundsätzlich ist der Servitutsberechtigte befugt, alles zu tun, was zur Erhaltung und Ausübung der Dienstbarkeit nötig ist (Art. 737 Abs. 1 ZGB). Nach dem Grundsatz «servitus civiliter exercenda» ist er jedoch verpflichtet, sein Recht in möglichst schonender Weise auszuüben (Art. 737 Abs. 2 ZGB). Die Bestimmung von Art. 737 Abs. 2 ZGB konkretisiert den in Art. 2 ZGB statuierten Rechtsgrundsatz des Handelns nach Treu und Glauben (vgl. Petit-Pierre, Basler Kommentar ZGB II, 4. A., 2011, Art. 737 N 1 und 6). Mithin handelt es sich um einen allgemeinen Rechtsgrundsatz (vgl. Liver, Zürcher Kommentar, 2. A., 1980, Art. 737 ZGB N 2 f.). Der Berechtigte muss auf eine den Belasteten schädigende Rechtsausübung verzichten, soweit diese Rechtsausübung unnütz ist oder sein Interesse daran jedenfalls in einem krassen Missverhältnis zum Interesse des Belasteten an der Unterlassung der Schädigung steht (BGE 137 III 145 E. 5.4 S. 152; BGE 100 II 195 E. 4a S. 197). Die Pflicht, sein Recht in möglichst schonender Weise auszuüben, bedeutet aber keine inhaltliche oder umfangmässige Beschränkung des Dienstbarkeitsrechts, sondern regelt die Ausübung der Dienstbarkeit (schonend) nach Massgabe ihres feststehenden Inhalts und Umfangs. Unnütze Rechtsausübung liegt nicht vor, wenn der Berechtigte stichhaltige oder schutzwürdige Gründe geltend machen kann (Urteil des Bundesgerichts 5C.232/2003 vom 2. März 2004 E. 5.2 f.). Die Anwendung des Grundsatzes «servitus civiliter exercenda» nach Art. 737 Abs. 2 ZGB verlangt mithin in aller Regel einen Ermessensentscheid unter wertendem Einbezug sämtlicher Umstände. Damit mangelt es aber zum Vornherein an der Voraussetzung der klaren Rechtslage gemäss Art. 257 ZPO, weshalb diese Prozessart grundsätzlich nicht in Betracht kommt.

4.3 Die auf dem Grundstück Nr. (...) lastende Dienstbarkeit wurde bis anhin nicht beansprucht, was sich unter anderem aus dem Schreiben von (...) vom 11. Juni 2008 ergibt. Darin wurde den Gesuchsgegnern mitgeteilt, dass der Spielplatz nur so lange geduldet werde, als von der Dienstbarkeit kein Gebrauch gemacht werde. Die Gesuchsteller erachten die Rechte aus der Dienstbarkeit mit der Änderungsbaueingabe vom 13. Januar 2014 als ausgeübt. Dem ist entgegenzuhalten, dass aufgrund der beim Regierungsrat hängigen Verwaltungsbeschwerde gegen die Bewilligung der Veränderungen in Bezug auf die Zufahrt die rechtlichen Voraussetzungen für den Start der Arbeiten (noch) nicht gegeben sind. Die Gesuchsteller machten im erstinstanzlichen Verfahren nicht geltend, dass der Spielplatz der Ausübung eines anderen aus der Dienstbarkeit fliessenden Rechts entgegensteht oder dass sie aus der Entfernung der Spielgeräte vor der Bewilligung der Zufahrtstrasse irgendeinen Vorteil ziehen. Erstmals in der Berufungsantwort erwähnen sie, dass der Spielplatz das Fusswegrecht schon heute verhindere, ohne dies jedoch zu substanziieren. Im Berufungsverfahren können neue Tatsachen nur noch berücksichtigt werden, wenn sie ohne Verzug vorgebracht werden und trotz zumutbarer Sorgfalt nicht schon vor erster Instanz vorgetragen werden konnten (Art. 317 Abs. 1 ZPO). Dass diese Voraussetzungen erfüllt sind, machen die Gesuchsteller nicht geltend und ist offenkundig auch nicht der Fall.

Üben die Gesuchsteller die ihnen aus der Dienstbarkeit grundsätzlich zustehende Rechte aufgrund einer fehlenden rechtskräftigen Baubewilligung zurzeit nicht aus, besteht wohl kein aktuelles Interesse an der Beseitigung des Spielplatzes. Gemäss unumstrittener Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz ist die Entfernung der Spielgeräte nicht mit grossem Aufwand verbunden und kann daher innert kurzer Zeit erfolgen. Vor diesem Hintergrund lassen die weiteren Ausführungen der Vorinstanz, wonach nicht glaubhaft sei, dass die Überbaubarkeit des Grundstückes Nr. (...) über Jahre ausgeschlossen sei, die Rechtslage nicht als liquid erscheinen. Lässt sich die Projektänderung bis zum Vorliegen einer rechtskräftigen Baubewilligung ohnehin nicht verwirklichen und kann der Spielplatz innert kurzer Zeit entfernt werden, erscheint die verlangte Entfernung des Spielplatzes im jetzigen Zeitpunkt bei einer summarischen Beurteilung unnütz. Mithin ist zumindest fraglich, ob die Aufforderung zur sofortigen Entfernung nicht den Grundsatz der schonenden Rechtsausübung verletzt. Daran ändert offenkundig nichts, dass die Projektänderung gegenüber der ursprünglichen Variante der Zufahrt Vorteile bringt, wie dies der erstinstanzliche Richter festhielt. Diese Vorteile wären allenfalls von Bedeutung, wenn eine entsprechende Baubewilligung vorliegen würde. Die Auffassung der Vorinstanz, wonach das öffentlich-rechtliche Baubewilligungsverfahren vom zivilrechtlichen Verfahren zu trennen sei, steht einer Berücksichtigung der fehlenden rechtskräftigen Baubewilligung bei der Beurteilung der Frage, ob die Dienstbarkeitsberechtigten gegen das Gebot der schonenden Rechtsausübung verstossen, nicht entgegen, da diese ihre aus der Dienstbarkeit fliessenden Rechte aufgrund eines in Zukunft beabsichtigten bzw. geplanten Bauprojekts ausüben (vgl. BGE 110 II 125 E. 4 S. 126 f.). In diesem Sinne ist die Voraussetzung der klaren Rechtslage gemäss Art. 257 Abs. 1 lit. b ZPO nicht erfüllt.

Obergericht, II. Zivilabteilung, 19. November 2014

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