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Art. 1b IVG, Art. 27 EOG, Art. 2 AVIG, Art. 1a und Art. 5 AHVG, Art. 319 OR
Art. 4 ATSG, Art. 6 Abs. 2 UVG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 UVV
Art. 5 AHVG, Art. 6, Art. 8, Art. 8bis und Art. 8ter AHVV
Art. 8, Art. 13, Art. 21 und Art. 64a Abs. 1 lit. b IVG, Art. 2 Abs. 1 und 2 HVI, Ziffer 5.06 HVI-Anhang; Rz. 2035 KHMI

Art. 8, Art. 27 und Art. 42 ATSG, Art. 12 Abs. 2 ATSV, Art. 8 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 AVIG

Regeste:

Art. 8, Art. 27 und Art. 42 ATSG, Art. 12 Abs. 2 ATSV, Art. 8 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 AVIG – Droht eine reformatio in peius, eine Verschlechterung der Position der Einsprache führenden Partei, ist letztere vor Erlass des Einspracheentscheids zwingend darauf aufmerksam zu machen und auch auf die Möglichkeit eines Einspracherückzugs hinzuweisen (Erw. 2.2). Eine Vermittlungsunfähigkeit aufgrund familiärer Verpflichtungen oder anderer persönlicher Umstände ist erst zu bejahen, wenn der versicherten Person bei der Auswahl des Arbeitsplatzes aus familiären oder persönlichen Gründen nachweislich derart enge Grenzen gesetzt sind, dass das Finden einer passenden, eventuell zu jener des Ehegatten komplementären Stelle sehr ungewiss ist. Jedenfalls kann die  Vermittlungsfähigkeit ohne konkrete Überprüfung nicht verneint werden. Ausser bei offensichtlichem Missbrauch darf die Durchführungsstelle nicht schon zum Zeitpunkt des Einreichens des Entschädigungsgesuchs das Vorhandensein von Kinderhüteplätzen prüfen (Erw. 3.3). Vielmehr soll diese Prüfung erst erfolgen, wenn sich während der Leistungsbezugsdauer Anzeichen für fehlende Vermittlungsfähigkeit mehren. Diese Praxis bedeutet, dass eine erst später erfolgte Überprüfung der Vermittlungsfähigkeit nicht dazu dienen kann, die Vermittlungsfähigkeit rückwirkend auf den Zeitpunkt der Anmeldung zu verneinen. Eine spätere Aberkennung der Vermittlungsfähigkeit rückwirkend und ex tunc erscheint im Lichte des  Vertrauens- bzw. Gutglaubensschutzes nicht vertretbar (Erw. 5.2).

Aus dem Sachverhalt:

Die Versicherte, D, Jahrgang 1976, verheiratet, britische Staatsangehörige mit Niederlassungsbewilligung C, gelernte Personalfachfrau, zuletzt tätig gewesen bei der W GmbH, meldete sich per 15. Oktober 2012 beim RAV zur Arbeitsvermittlung an, was ihr mit Schreiben vom 2. Oktober 2012 bestätigt wurde. In der Folge wurde die Versicherte auf ihre Rechte und Pflichten als Stellensuchende hingewiesen und am 23. Oktober 2012 deponierte sie einen Antrag auf Arbeitslosenentschädigung ab 30. September 2012. In diesem Zusammenhang erklärte sie, sie sei willens und in der Lage, in einem 60 %-Pensum zu arbeiten. Zur Begründung der Kündigung führte sie aus, da ihre Tagesmutter aus gesundheitlichen Gründen gekündigt und weil sie bis dato keinen Ersatz gefunden habe, ihr Arbeitgeber das Gesuch um einen unbezahlten Urlaub oder um eine (vorübergehende) Pensenreduktion abgelehnt habe, habe sie das Arbeitsverhältnis gekündigt. Nach Rückfrage beim Arbeitgeber verfügte die Arbeitslosenkasse des Kantons Zug am 11. Februar 2013 eine Einstellung in der Anspruchsberechtigung für 31 Tage und führte zur Begründung an, die Versicherte habe die Arbeitslosigkeit selbst verschuldet. Die Akten enthalten für 2013 sodann zwei Verfügungen betreffend Einstellung in der Anspruchsberechtigung für vier resp. fünf Tage, da die Versicherte quantitativ und qualitativ ungenügende Arbeitsbemühungen ausgewiesen habe. Im Januar 2014 überwies die Arbeitslosenkasse die Akten an das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) zur Prüfung der Frage der Vermittlungsfähigkeit. Am 22. Januar 2014 verfügte das AWA, die Versicherte sei seit dem 27. November 2013 nicht vermittlungsfähig. Unter Verweis auf Art. 17 Abs. 1 und 2 und insbesondere Art. 15 Abs. 1 AVIG wurde zusammenfassend begründet, Vermittlungsunfähigkeit sei dann anzunehmen, wenn der versicherten Person bei der Auswahl des Arbeitsplatzes aus familiären oder persönlichen Gründen nachweislich derart enge Grenzen gesetzt seien, dass das Finden einer passenden Stelle sehr ungewiss sei. Vorliegend hätten bereits ab Oktober 2012 Zweifel an der Vermittlungsfähigkeit bestanden. Aufgrund der nicht zu regelnden Kinderbetreuung hätten Termine verschoben werden müssen und die Versicherte sei gezwungen gewesen, auf die Teilnahme an einem Beschäftigungsprogramm zu verzichten.

Die am 29. Januar 2014 dagegen erhobene Einsprache wies das AWA mit Entscheid vom 8. August 2014 ab. Begründend wurde zunächst noch einmal auf die Anspruchsvoraussetzungen für den Bezug von Arbeitslosenentschädigungen nach Art. 8 AVIG, auf die Vermittlungsfähigkeit nach Art. 15 AVIG und in diesem Zusammenhang auf die Bestimmung über die Zumutbarkeit einer Arbeit nach Art. 16 AVIG, schliesslich auf die Schadenminderungspflicht verwiesen. In concreto wurde bemerkt, eine versicherte Person mit betreuungsbedürftigen Kindern müsse hinsichtlich Verfügbarkeit dieselben Bedingungen erfüllen wie alle anderen Versicherten. Entsprechend müsse sie das Privat- und Familienleben so gestalten, dass sie nicht gehindert werde, im Umfang des geltend gemachten Beschäftigungsgrades einer Erwerbstätigkeit nachzugehen oder an einer arbeitsmarktlichen Massnahme teilzunehmen. Wie sie sich organisiere, sei ihre Sache. Könne sie ihre Arbeitskraft indes nicht so einsetzen, wie das ein Arbeitgeber normalerweise verlange, sei sie nicht vermittlungsfähig. Zum Zeitpunkt der Anmeldung zum Leistungsbezug dürften die Durchführungsstellen noch keinen Obhutsnachweis verlangen. Zeige sich im Laufe der Zeit allerdings, dass jemand nicht willens sei, die Kinder einer Drittperson anzuvertrauen, müsse die Amtsstelle einen konkreten Nachweis für die Kinderbetreuung, einen Obhutsnachweis, verlangen. In casu bringe die Versicherte vor, wo bzw. wann sich ihre drei Knaben in Kinderkrippe oder Schule befänden und wann sie zuhause fremdbetreut würden. Die Frage, ob eine versicherte Person in einer bestimmten Zeitperiode vermittlungsfähig gewesen sei, beurteile sich prospektiv, d.h. von jenem Zeitpunkt aus und aufgrund der tatsächlichen Verhältnisse, wie sie sich bis zum Verfügungserlass entwickelt hätten. Diesbezüglich sei erstellt, dass die Versicherte der Einladung zur Grundinformation am 17. Oktober 2012 bzw. zum Erstgespräch am 18. Oktober 2012 mangels Kinderbetreuung nicht habe folgen können. Es sei ihr am 25. Oktober 2012 ein Ersatztermin gewährt worden, anlässlich welchem sie erklärt habe, dass die Kinderbetreuung zurzeit nicht gewährleistet sei. Auch das Folgegespräch vom 28. Februar 2013 habe die Versicherte aus demselben Grund verschieben wollen, was ihr aber nicht bewilligt worden sei. Sie habe dann den jüngsten Sohn zum Gespräch mitgenommen, was ihr ausnahmsweise «durchgelassen» worden sei. Den Gesprächstermin vom 11. April 2013 habe die Versicherte ferienhalber, den Termin vom 22. April 2013 zufolge einer Magen-Darm-Grippe ihrerseits, den Termin vom 26. April 2013 aufgrund der Grippeerkrankung der Kinder abgesagt. Im Rahmen des Gesprächs vom 27. November 2013 habe sie schliesslich bemerkt, sie suche weiterhin im Rahmen von 60 % eine Stelle, eine Stellenzuweisung oder eine arbeitsmarktliche Massnahme aber seien nicht möglich, da die Betreuung des ältesten Kindes nicht gewährleistet sei. Das Kind komme um 11.30 Uhr nach Hause, habe am Nachmittag von 13.30 bis 15.00 Uhr Kindergarten, donnerstags und freitags am Nachmittag jeweils frei. Im Falle einer Festanstellung würde sich eine Betreuung allerdings organisieren lassen. Erstellt sei sodann ein Zwischenverdienst für X, den sie von Zuhause aus erledigen könne, mit wenigen Stunden pro Monat, zwischen ca. sieben und zehn Stunden. Würdigend wurde sodann vermerkt, der erstellte Sachverhalt erhelle, dass die Versicherte zu keiner Zeit objektiv in der Lage gewesen sei, einer Beschäftigung im Rahmen von 60 % ausserhalb des Hauses nachzugehen. Im Gespräch vom 27. November 2013 habe die Versicherte ja denn aus selbst bestätigt, dass zurzeit weder eine Stellenzuweisung noch eine arbeitsmarktliche Massnahme in Frage komme. Dies habe zur Verneinung der Vermittlungsfähigkeit geführt. Auch die im Einspracheverfahren eingereichten Obhutsnachweise vermöchten nicht zu genügen. Es fehle noch immer der von den Obhutspersonen bestätigte Nachweis, dass die drei Kinder für den geltend gemachten Zeitraum bzw. für den Beschäftigungsgrad von 60 % genügend betreut würden. Die Rechnung für die Y International School zeige zum Beispiel, dass für sechs halbe Tage, ab 6. Januar 2014 für einen zusätzlichen Halbtag bezahlt werde. Damit sei aber nicht erstellt, dass Sohn E für die geltend gemachten drei vollen Arbeitstage, insbesondere die Nachmittage, auch betreut sei. Unklar sei sodann, seit wann er in dieser Schule betreut werde. Dem Betreuungsvertrag von Sohn F könne entnommen werden, dass dieser am Dienstag und Freitag jeweils vormittags und am Donnerstag den ganzen Tag in der Kita Z weile. Der Vertrag sei am 27. August 2013 unterzeichnet worden, gleichwohl gelte der 21. Mai 2013 als Eintrittsdatum. Sodann entspreche die geltend gemachte Betreuungszeit nicht dem Beschäftigungsgrad von 60 %. Für den dritten Sohn fehle jeder Obhutsnachweis. Zwar sei die Versicherte ihren Kontrollpflichten teilweise nachgekommen und habe von Zuhause aus auch einen Zwischenverdienst erwirtschaftet, trotzdem sei sie objektiv nicht in der Lage, einer Beschäftigung im Umfang von 60 % nachzugehen. Soweit in der Einsprache argumentiert werde, mit 18 Stunden pro Monat sei sie durchaus vermittlungsfähig, müsse bedacht werden, dass ein 60 %-Pensum 24 Stunden pro Woche oder 96 Stunden pro Monat entspreche. Mit 18 Stunden pro Monat bzw. 4.5 Stunden pro Woche erfülle die Versicherte den Mindestarbeitsausfall von 20 % nicht und hätte somit auch unter diesem Aspekt keinen Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung. Widersprüchlich erscheine sodann, dass die Versicherte am Dienstag, Donnerstag und Freitag berufstätig sein wolle, den fraglichen Zwischenverdienst aber fast ausschliesslich am Montag erwirtschaftet habe. Nicht zu hören sei schliesslich der Einwand, bei einer Festanstellung wäre die erforderliche Kinderbetreuung dann schon zu organisieren. Nach dem Gesagten sei die Vermittlungsfähigkeit ab Anmeldung, d.h. ab dem 15. Oktober 2012 zu verneinen, was dazu führe, dass die Verfügung vom 22. Januar 2014 zu ersetzen sei. Die bereits geleistete Arbeitslosenentschädigung werde nach Rechtskraft des Entscheids durch die Arbeitslosenkasse zurückzufordern sein.

Aus den Erwägungen:

(...)

2.

2.1 In formeller bzw. verfahrensrechtlicher Hinsicht ist zunächst festzustellen, dass die Beschwerdeführerin die Verfügung vom 22. Januar 2014 – mit welcher ihr die Vermittlungsfähigkeit ab 27. November 2013 abgesprochen wurde – mit Einsprache vom 29. Januar 2014 angefochten hatte. Im Rahmen des Einspracheverfahrens nahm die Beschwerdegegnerin eine reformatio in peius vor, indem sie der Beschwerdeführerin die Vermittlungsfähigkeit nun rückwirkend ab dem 15. Oktober 2012 absprach. Ein Hinweis an die Beschwerdeführerin, dass eine reformatio in peius geplant sei und sie die Möglichkeit habe, die Beschwerde zurückzuziehen, resp. eine entsprechende Einladung zur Stellungnahme, ist nicht aktenkundig.

2.2 In der Regel fällt eine Einspracheinstanz einen materiellen Entscheid, sei dies eine Abweisung, eine ganze oder eine teilweise Gutheissung. Dabei kann sie aber auch über die Anträge der Partei hinausgehen und die Verfügung zu Gunsten oder zu Ungunsten der einsprechenden Partei abändern (Art. 12 Abs. 1 ATSV). Droht eine reformatio in peius, eine Verschlechterung der Position der Einsprache führenden Partei, ist letztere vor Erlass des Einspracheentscheids – nach der höchstrichterlichen Praxis zwingend – darauf aufmerksam zu machen und auch auf die Möglichkeit hinzuweisen, dass sie die Einsprache zurückziehen kann (vgl. hierzu: Art. 12 Abs. 2 ATSV). Im Falle eines Einspracherückzugs kann die Verwaltung bei zweifelsloser Unrichtigkeit eine Wiedererwägung vornehmen. Ein voraussetzungsloses Zurückkommen auf den Entscheid ist indes ausgeschlossen (vgl. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Auflage, Zürich 2009, Art. 52 Rz. 36, mit weiteren Hinweisen).

2.3 Wie in Erwägung 2.1 bereits angesprochen, ist ein Hinweis des AWA auf die bevorstehende reformatio in peius und auf die Möglichkeit die Einsprache zurückzuziehen, nicht aktenkundig. Da das AWA mit Schreiben vom 8. September 2014 unter anderem explizit zum Einreichen der vollständigen, nummerierten Akten – der Terminus «vollständige, nummerierte Akten» wurde sogar fett gedruckt – aufgefordert wurde und da die Vernehmlassung keinen Vorbehalt enthielt, wonach und gegebenenfalls wieso die Akten nicht vollständig seien, ist vorliegend von deren Vollständigkeit auszugehen und es ist festzustellen, dass der in Art. 12 Abs. 2 ATSV vorgeschriebene Hinweis auf die Rückzugsmöglichkeit unterblieb. Damit erweist sich die mit Einspracheentscheid vom 8. August 2014 erfolgte reformatio in peius im Lichte von Verordnung, Lehre und Praxis nicht rechtskonform und sie kann nicht geschützt werden. Dies steht denn auch völlig im Einklang mit Art. 42 ATSG (vgl. auch: Erw. 6).

2.4 Obschon der Einspracheentscheid bereits aus formellen Gründen aufzuheben und die Sache zum Neuentscheid an die verfügende Behörde zurückzuweisen ist, rechtfertigt sich auch eine materielle Prüfung der Sache, nur schon aus prozessökonomischen Gründen (vgl. Erw. 5 ff.).

3.

3.1 Nach Art. 8 Abs. 1 AVIG hat Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung, wer a) ganz oder teilweise arbeitslos ist; b) einen anrechenbaren Arbeitsausfall erlitten hat; c) in der Schweiz wohnt; d) die obligatorische Schulzeit zurückgelegt und weder das Rentenalter der AHV erreicht noch eine Altersrente der AHV bezieht; e) die Beitragszeit erfüllt hat oder von der Erfüllung der Beitragszeit befreit ist; f) vermittlungsfähig ist und; g) die Kontrollpflichten erfüllt.

3.2 Artikel 15 AVIG regelt speziell die Vermittlungsfähigkeit. Als vermittlungsfähig gilt demgemäss, wer bereit, in der Lage und berechtigt ist, eine zumutbare Arbeit anzunehmen und an Eingliederungsmassnahmen teilzunehmen (Art. 15 Abs. 1 AVIG). Zur Vermittlungsfähigkeit gehört mithin nicht nur die Arbeitsfähigkeit im objektiven Sinne, sondern subjektiv auch die Bereitschaft, die Arbeitskraft entsprechend den persönlichen Verhältnissen während der üblichen Arbeitszeit auch einzusetzen. Dabei ist die Vermittlungsfähigkeit prospektiv, d.h. unter Würdigung der Verhältnisse, die bei Verfügungserlass galten, zu beurteilen. Die Vermittlungsfähigkeit schliesst graduelle Abstufungen aus. Hingegen sind deren Teilelemente (Bereitschaft, Möglichkeit und Berechtigung) aufgrund der persönlichen Umstände der versicherten Person zu bestimmen (Murer/Stauffer/Kupfer, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und Insolvenzentschädigung, vierte überarbeitete und aktualisierte Auflage, Zürich 2013, S. 9 f.). Wesentliches Element der Vermittlungsbereitschaft ist nach dem Gesagten die Bereitschaft zur Annahme einer Arbeitnehmendentätigkeit. Die bloss verbal geäusserte Vermittlungsbereitschaft genügt nicht. Vielmehr muss die versicherte Person sich der öffentlichen Arbeitsvermittlung zur Verfügung stellen, jede zumutbare Arbeit annehmen, sich selbst intensiv um eine zumutbare Arbeit bemühen und an Eingliederungsmassnahmen teilnehmen. Die Vermittlungsbereitschaft muss auf die Suche und Annahme einer unselbständigen Erwerbstätigkeit im Rahmen des gewünschten Beschäftigungsgrades gerichtet sein. Die versicherte Person muss im Rahmen ihrer Schadenminderungspflicht auch bereit sein, zumutbare befristete Beschäftigungen oder auch Zwischenverdienste anzunehmen (vgl. AVIG-Praxis ALE B219 ff.). Zur Vermittlungsfähigkeit zählt unter anderem auch die Arbeitsfähigkeit (in der Lage sein), worunter insbesondere die körperliche und geistige Leistungsfähigkeit sowie die örtliche und zeitliche Verfügbarkeit zu verstehen ist. Die versicherte Person muss in der Lage sein, ihre Arbeitskraft auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu verwerten (vgl. AVIG-Praxis ALE B222). Bestehen Zweifel an der Vermittlungsfähigkeit einer versicherten Person, so unterbreitet das RAV oder die ALK den Fall dem AWA zum Entscheid. Das AWA gibt der versicherten Person Gelegenheit zur Stellungnahme und entscheidet über die Vermittlungsfähigkeit. Diesen Entscheid hält es in einer Verfügung fest (vgl. AVIG-Praxis ALE B274 ff.).

3.3 In materieller Hinsicht halten Lehre und Rechtsprechung fest, der Umstand, dass Versicherte aufgrund familiärer Verpflichtungen oder anderer persönlicher Umstände nur während gewisser Tages- und Wochenstunden erwerbstätig sein könnten, Eltern aufgrund ihrer Betreuungspflichten Arbeit in Gegenschicht zum erwerbstätigen Gatten erbringen wollten, begründe noch keine Vermittlungsunfähigkeit. Diese ist erst zu bejahen, wenn der versicherten Person bei der Auswahl des Arbeitsplatzes aus familiären oder persönlichen Gründen nachweislich derart enge Grenzen gesetzt sind, dass das Finden einer passenden, eventuell zu jener des Ehegatten komplementären Stelle sehr ungewiss sei. Bejaht wurde die Vermittlungsfähigkeit im Falle einer Frau, die nur abends und samstags – im Gastrobereich – arbeiten konnte, weil dann ihr Ehemann das Kind beaufsichtigen konnte. Jedenfalls kann die Vermittlungsfähigkeit ohne konkrete Überprüfung, allein aufgrund von allgemeinen Aussagen betreffend Betreuungsmöglichkeiten und der Schwierigkeiten, nur für abends – im Gastrobereich – eine Stelle zu finden, nicht verneint werden. Ausser bei offensichtlichem Missbrauch darf die Durchführungsstelle nicht schon zum Zeitpunkt des Einreichens des Entschädigungsgesuchs das Vorhandensein von Kinderhüteplätzen prüfen. Erscheint hingegen im Verlauf der Bezugszeit der Wille oder die Möglichkeit, die Kinderbetreuung einer Drittperson anzuvertrauen, aufgrund von Äusserungen oder des Verhaltens der versicherten Person als zweifelhaft, ist die Vermittlungsfähigkeit im Hinblick auf die konkrete Möglichkeit der Kinderbetreuung zu prüfen. Fehlt es mit Blick auf das angestrebte Beschäftigungspensum am Nachweis einer entsprechend gewährleisteten Kinderbetreuung, ist zu prüfen, ob die versicherte Person allenfalls bereit und in der Lage wäre, ein anderes Pensum von mindestens 20 % eines Normalpensums auszuüben, was bejahendenfalls den Anspruch auf Arbeitslosenentschädigung in reduzierterem Umfang begründet. Kann eine versicherte Person, vormittags, nachmittags oder abends zwei Stunden einer ausserhäuslichen Tätigkeit nachgehen – während sie in der verbleibenden Zeit ihre erwachsene, behinderte Tochter zuhause betreut –, sind die konkreten Aussichten auf eine Anstellung auf dem für die versicherte Person in Betracht fallenden Arbeitsmarkt als intakt zu beurteilen. Zu denken ist in diesem Zusammenhang in Reinigungsarbeiten in privaten Haushalten oder kleineren Unternehmen. Die Vermittlungsfähigkeit darf aufgrund von familiären Betreuungspflichten jedenfalls nicht leichtfertig verneint werden. Dies gilt insbesondere, wenn jemand vor Eintritt der Arbeitslosigkeit bereits den Tatbeweis erbracht hat und die bisherige Stelle aus nicht selbst zu verantwortenden Gründen aufgegeben werden musste (vgl. Barbara Kupfer Bucher, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die obligatorische Arbeitslosenversicherung und Insolvenzentschädigung, 4. Auflage, Zürich 2013, S. 80-82).

3.4

3.4.1 Gemäss Art. 27 ATSG sind die Versicherungsträger und Durchführungsorgane der einzelnen Sozialversicherungen verpflichtet, im Rahmen ihres Zuständigkeitsbereiches die interessierten Personen über ihre Rechte und Pflichten aufzuklären (Abs. 1). Jede Person hat Anspruch auf grundsätzlich unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten. Dafür zuständig sind die Versicherungsträger, denen gegenüber die Rechte geltend zu machen oder die Pflichten zu erfüllen sind (Abs. 2). Gemäss der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts (EVG; heute Bundesgericht) stipuliert Art. 27 Abs. 1 ATSG eine allgemeine und permanente Aufklärungspflicht der Versicherungsträger und Durchführungsorgane, die nicht erst auf persönliches Verlangen der interessierten Personen zu erfolgen hat, und hauptsächlich durch die Abgabe von Informationsbroschüren, Merkblättern und Wegleitungen erfüllt wird. Artikel 27 Abs. 2 ATSG beschlägt sodann ein individuelles Recht auf Beratung durch den zuständigen Versicherungsträger. Jede versicherte Person kann vom Versicherungsträger im konkreten Einzelfall eine unentgeltliche Beratung über ihre Rechte und Pflichten verlangen (BGE 131 V 472 Erw. 4.1 mit Hinweisen). Nach dem genannten Entscheid darf es einer versicherten Person nicht zum Nachteil gereichen, wenn eine Auskunft entgegen gesetzlicher Vorschrift oder obwohl sie nach den im Einzelfall gegebenen Umständen geboten war unterbleibt. Eine ungenügende oder fehlende Wahrnehmung der Beratungspflicht gemäss Art. 27 Abs. 2 ATSG kommt einer falsch erteilten Auskunft des Versicherungsträgers gleich, welcher in Nachachtung des Vertrauensprinzips dafür einzustehen hat (BGE 131 V 472 Erw. 5 mit Hinweisen).

(...)

4. Fakt ist, dass die Beschwerdeführerin aufgrund von unvermittelten Problemen mit der Betreuung ihrer drei Kinder ihre letzte feste Anstellung bei der W GmbH per Ende September 2012 kündigte, dass sie im Zusammenhang mit der Kinderbetreuung vereinzelte Gesprächstermine verschieben oder ausfallen lassen musste und dass ihr gestützt auf die «ungenügende Regelung der Kinderbetreuung» per 27. November 2013 die Vermittlungsfähigkeit abgesprochen wurde, zu guter Letzt, dass ihr die Vermittlungsfähigkeit mit dem Einspracheentscheid vom 8. August 2014 ex tunc abgesprochen wurde. Dass letzteres aus formellen Gründen nicht zulässig war, wurde bereits in Erwägung 2 ff. dargelegt. Streitig und zu prüfen ist nun noch, ob die ganze oder eine teilweise Verneinung der Vermittlungsfähigkeit ex nunc oder ex tunc aus materiell rechtlicher Sicht berechtigt war oder nicht. Die Akten ergeben dazu im Wesentlichen das Folgende:

(...)

5. Diese Akten und Fakten sind nun nach dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit zu würdigen.

(...)

5.2 Alsdann stellt sich die Frage, ob die Verneinung der Vermittlungsfähigkeit rückwirkend und ex tunc jedenfalls materiell rechtlich zu schützen wäre. Diesbezüglich ist unter Verweis auf Erwägung 3.2 und 3.3 zu bedenken, dass die Vermittlungsfähigkeit im objektiven wie im subjektiven Sinne zu prüfen ist und dass die entsprechenden Voraussetzungen kumulativ erfüllt sein müssen. Während die persönliche Bereitschaft, eine Tätigkeit in einem gewissen Pensum zu erbringen, als subjektive Komponente der Vermittlungsfähigkeit zu qualifizieren ist, zählen die örtliche wie die zeitliche Verfügbarkeit, aber auch die Arbeitsfähigkeit im Sinne von Art. 6 ATSG, zu den objektiven Komponenten. Für den Beleg der subjektiven Vermittlungsfähigkeit genügen verbale Bekenntnisse nicht. Vielmehr ist der Tatbeweis in Form intensiver Suchbemühungen, des effektiven zur Verfügung Stehens für jede zumutbare Arbeit sowie der Teilnahme an Eingliederungsmassnahmen gefordert. Nach der Lehre und der Rechtsprechung begründet der Umstand, dass jemand aufgrund seiner Betreuungspflichten den Kindern gegenüber nur während gewisser Tages- und Wochenstunden für die Erwerbstätigkeit zur Verfügung steht – Beispiel der Mutter, die nur Abends und am Samstag im Service tätig sein kann oder der Frau, die ihre erwachsene, geistig behinderte Tochter zuhause betreut und täglich während zwei Stunden einer ausserhäuslichen Arbeit nachgehen kann – noch keine Vermittlungsunfähigkeit. Zu bedenken ist im Weiteren, dass Lehre und Rechtsprechung es – vorbehältlich des offensichtlichen Missbrauchs – ausdrücklich ablehnen, die Vermittlungsunfähigkeit aufgrund von Betreuungspflichten den Kindern gegenüber bereits bei Anmeldung zum Leistungsbezug zu prüfen bzw. auf diesen Zeitpunkt hin anzunehmen. Vielmehr soll diese Prüfung erst erfolgen, wenn während der Leistungsbezugsdauer Anzeichen für fehlende Vermittlungsfähigkeit sich mehren. Den geeigneten Zeitpunkt hierfür hat die zuständige Behörde eigenverantwortlich zu bestimmen. Nach Ansicht des Gerichts bedeutet diese Praxis nun aber auch, dass eine erst später erfolgte Überprüfung der Vermittlungsfähigkeit nicht dazu dienen kann, die Vermittlungsfähigkeit rückwirkend auf den Zeitpunkt der Anmeldung zu verneinen. Ergibt sich aus den Akten schliesslich, dass die Situation der Kinderbetreuung zum einen bei der Anmeldung zum Leistungsbezug, zum andern im Rahmen der Verfügung zur Einstellung in der Anspruchsberechtigung wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit thematisiert worden war, dass die Beschwerdeführerin die Betreuungsproblematik ihrerseits jedenfalls immer dann ansprach, wenn sie aufgrund der mangelhaften Betreuungssituation Termine verschieben musste, dass die Beschwerdegegnerin diese Problematik, nach den aktenkundigen Protokollen zu schliessen, in den Beratungsgesprächen zwischen Dezember 2012 und dem 27. November 2013 aber offenbar überhaupt nicht mehr ansprach, so erscheint eine spätere Aberkennung der Vermittlungsfähigkeit rückwirkend und ex tunc als im Lichte des Vertrauens- bzw. des Gutglaubensschutzes nicht vertretbar und sie ist entsprechend denn auch nicht zu schützen. Dass die Durchführungsstelle mit der neuerlichen Thematisierung des Problems über ein Jahr zuwartete, obschon zwischenzeitlich immer wieder Termine verschoben werden mussten, was die damals zuständige Beraterin jeweils aber offensichtlich akzeptierte, ist allein ihr anzulasten. Nach dem Gesagten erachtet das Gericht die rückwirkende Aberkennung der Vermittlungsfähigkeit als nicht haltbar.

5.3 Im Weiteren gilt es zu prüfen, ob die Vermittlungsfähigkeit mit der Verfügung vom 22. Januar 2014 zumindest ab dem 27. November 2013, d.h. ab Datum des entsprechenden Beratergesprächs, zu Recht verneint wurde. In diesem Zusammenhang ist unter Verweis auf Barbara Kupfer Bucher bzw. auf Erwägung 3.3 vorstehend an die bundesgerichtliche Praxis zu erinnern, wonach der fehlende Nachweis einer für ein Vollpensum bzw. für das angestrebte Arbeitspensum – in casu 60 % – ausreichend gewährleisteten Kinderbetreuung die Durchführungsstelle grundsätzlich zur Prüfung verpflichtet, ob die versicherte Person allenfalls bereit und in der Lage wäre, ein anderes Pensum von mindestens 20 % des Normalpensums auszuüben, was dann zu einer Reduktion des Anspruchs auf Arbeitslosenentschädigung, nicht aber zur gänzlichen Aberkennung der Vermittlungsfähigkeit führte. Eine solche Prüfung nahm die Beschwerdegegnerin nie vor, obgleich die Akten belegen, dass die Beschwerdeführerin die Kinderbetreuung spätestens ab Mitte, Ende Mai 2013 jedenfalls für drei Vormittage in der Woche, folglich für sicherlich 30 % hatte regeln können. Unterblieb die angesprochene Prüfung, so liegt jedenfalls in diesem Zusammenhang eine Verletzung der Abklärungspflicht vor und die Sache ist zur entsprechenden Prüfung der Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. Im Rahmen dieser Prüfung wird im Übrigen auch zu entscheiden sein, inwieweit die erst im Beschwerdeverfahren zur Sprache gebrachte Betreuungsmöglichkeit durch «Einfliegen» der beiden britischen Grosselternpaare zugunsten der Beschwerdeführerin berücksichtigt werden kann. Zu bedenken gilt diesbezüglich immerhin, dass die genannte Betreuungsmöglichkeit die in casu gewünschte Flexibilität für die Beschwerdeführerin jedenfalls bis zum Erlass der angefochtenen Verfügung, des angefochtenen Einspracheentscheids nicht zu gewährleisten vermochte. Sodann dürfte diese Lösung jedenfalls für «spontane und akute Notfälle» auch kaum in Betracht fallen. Dass die Beschwerdegegnerin die Vermittlungsfähigkeit für ein Pensum von 60 % mit Verfügung vom 22. Januar 2014 nicht ab Verfügungsdatum, sondern, wie erfolgt, ab dem 27. November 2013 beurteilte, ist hingegen grundsätzlich nicht zu beanstanden, liegt dies doch in ihrem Ermessen. Die gänzliche Verneinung der Vermittlungsfähigkeit hingegen erweist sich wie erwähnt nicht als rechtskonform.

(...)

6. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die im Rahmen des Einspracheverfahrens erfolgte reformatio in peius bereits aus formellen, verfahrensrechtlichen Gründen nicht geschützt werden kann. Sodann erweist sich eine im Januar 2014 rückwirkend per Oktober 2012 verfügte Aberkennung der Vermittlungsfähigkeit im Lichte von Lehre und Rechtsprechung sowie aus Gründen des Gutglaubens- resp. Vertrauensschutzes als nicht vertretbar. Per 27. November 2013 hätte die Beschwerdegegnerin sodann nicht einfach von der gänzlichen Vermittlungsunfähigkeit ausgehen dürfen, sondern hätte prüfen müssen, für welchen Zeitraum die Beschwerdeführerin in welchem Grad von mehr als 20 % wirklich vermittlungsfähig war, so ihr diese jedenfalls für ein Pensum von 60 % abzusprechen war. Folglich ist die Sache zu weiteren Abklärungen und zum Neuentscheid im Sinne der Erwägungen an das AWA zurückzuweisen. Damit erweist sich die Beschwerde als weitgehend begründet und sie ist nach dem Gesagten gutzuheissen.

(...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 26. Februar 2015 S 2014 112

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