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Art. 1b IVG, Art. 27 EOG, Art. 2 AVIG, Art. 1a und Art. 5 AHVG, Art. 319 OR
Art. 4 ATSG, Art. 6 Abs. 2 UVG i.V.m. Art. 9 Abs. 2 UVV
Art. 5 AHVG, Art. 6, Art. 8, Art. 8bis und Art. 8ter AHVV
Art. 8, Art. 13, Art. 21 und Art. 64a Abs. 1 lit. b IVG, Art. 2 Abs. 1 und 2 HVI, Ziffer 5.06 HVI-Anhang; Rz. 2035 KHMI
Art. 8, Art. 27 und Art. 42 ATSG, Art. 12 Abs. 2 ATSV, Art. 8 Abs. 1 und Art. 15 Abs. 1 AVIG
Art. 8, Art. 59 und Art. 60 AVIG

Art. 9 und Art. 17 Abs. 2 ATSG, Art. 42 IVG; Art. 37 und Art. 38 IVV

Regeste:

Art. 9 und Art. 17 Abs. 2 ATSG, Art. 42 IVG; Art. 37 und Art. 38 IVV –  Benötigte Hilfe für die Vornahme einer Lebensverrichtung im Sinne von Art. 37 IVV kann nicht nur in direkter Dritthilfe, sondern auch bloss in indirekter Dritthilfe bestehen (Erw. 3.3). Hilflosigkeit gemäss Art. 37 Abs. 1 IVV gilt schon dann als schwer, wenn die versicherte Person neben der Dritthilfe in allen sechs alltäglichen Lebensverrichtungen auch der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf. Es genügt, wenn eines dieser beiden Kriterien erfüllt ist (Erw. 7.1). Im konkreten Fall ist der Bedarf der geistig schwer behinderten Beschwerdeführerin an direkter und indirekter Dritthilfe in der Lebensverrichtung «Aufstehen/Absitzen/Abliegen» ausgewiesen (Erw. 7.3.2). Werden der Gegenpartei keine schriftlichen Plädoyernotizen abgegeben, kann darin keine Verletzung des  Gehörsanspruchs gesehen werden. Es besteht keinerlei Verpflichtung, das mündlich erstattete Plädoyer anlässlich der Verhandlung auch in schriftlicher Form auszuhändigen (Erw. 8.).

Aus dem Sachverhalt:

Die Versicherte A, geboren 1970, leidet u.a. an einer angeborenen cerebralen Lähmung (Geburtsgebrechen Nr. 390), an einer angeborenen Epilepsie (Geburtsgebrechen Nr. 387) und an einer geistigen Behinderung. Die Invalidenversicherung erbrachte Leistungen für medizinische Massnahmen und Sonderschulmassnahmen und leistete ab dem 1. Dezember 1979 Pflegebeiträge für hilflose Minderjährige bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades. Kurz vor Erreichen der Volljährigkeit, im Februar 1988, wurde A von ihren Eltern bei der IV-Stelle des Kantons Zug zum Bezug von Leistungen für Erwachsene, namentlich einer Rente und einer Hilflosenentschädigung, angemeldet. Mit Verfügung vom 3. Oktober 1988 sprach die IV-Stelle A eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit mittleren Grades mit Wirkung ab 1. März 1988, mit Verfügung vom 17. Februar 1989 eine ganze Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 100 % mit Wirkung ab 1. Februar 1989 zu. Am 12. Februar 1990 trat A ins Heim X, wo sie auch heute noch lebt, ein. Mit Verfügung vom 15. Februar 1993 wurde die Hilflosenentschädigung mit Wirkung ab 1. März 1993 auf eine Entschädigung bei Hilflosigkeit schweren Grades erhöht. Nach Durchführung eines Revisionsverfahrens teilte die IV-Stelle A mit Verfügung vom 18. Dezember 2003 mit, es bestehe weiterhin Anspruch auf die bisherige Invalidenrente und die bisherige Entschädigung wegen schwerer Hilflosigkeit. Per Dezember 2013 leitete die IV-Stelle eine weitere Revision der Invalidenrente und der Hilflosenentschädigung ein. In diesem Rahmen wurde am 21. Januar 2014 eine Abklärung vor Ort durchgeführt. Mit Vorbescheid vom 30. Januar 2014 und Verfügung vom 23. April 2014 teilte die IV-Stelle der Versicherten mit, es bestehe Anspruch auf eine Entschädigung wegen mittelschwerer Hilflosigkeit bei Aufenthalt im Heim. Die Reduktion der Hilfosenentschädigung erfolge auf Ende des dem Datum der Verfügung folgenden Monats. Einer allfälligen Beschwerde gegen die Verfügung werde die aufschiebende Wirkung entzogen.

Gegen diese Verfügung liess A, gesetzlich vertreten durch ihre Eltern B und C, diese vertreten durch Rechtsanwalt D, mit Eingabe vom 22. Mai 2014 Verwaltungsgerichtsbeschwerde erheben und die Anträge deponieren, es sei eine öffentliche Verhandlung durchzuführen, es sei die Verfügung aufzuheben, eventuell sei die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen und diese zu verpflichten, den Anspruch auf Hilfosenentschädigung sachgerecht abzuklären, eventualiter sei die IV-Stelle zu verpflichten, den Anspruch mittels eines neutralen medizinischen Gutachtens abzuklären, der Beschwerdeführerin sei die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und der unterzeichnete Rechtsanwalt sei als unentgeltlicher Rechtsbeistand einzusetzen; unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der IV-Stelle.

Aus den Erwägungen:

(...)

3.

3.1 Versicherte mit Wohnsitz und gewöhnlichem Aufenthalt (Art. 13 ATSG) in der Schweiz, die hilflos (Art. 9 ATSG) sind, haben gemäss Art. 42 IVG Anspruch auf eine Hilflosenentschädigung. Als hilflos gilt eine Person, die wegen einer Beeinträchtigung der Gesundheit für alltägliche Lebensverrichtungen dauernd der Hilfe Dritter oder der persönlichen Überwachung bedarf (Art. 9 ATSG). Im Bereich der Invalidenversicherung gilt auch eine Person als hilflos, welche zu Hause lebt und wegen der gesundheitlichen Beeinträchtigung dauernd auf lebenspraktische Begleitung angewiesen ist (Art. 42 Abs. 3 Satz 1 IVG; Art. 38 der Verordnung über die Invalidenversicherung [IVV, SR 831.201]). Praxisgemäss (BGE 121 V 88 Erw. 3a mit Hinweisen) sind für die Beurteilung der Hilflosigkeit die folgenden sechs alltäglichen Lebensverrichtungen massgebend: Ankleiden/ Auskleiden; Aufstehen/ Absitzen/ Abliegen; Essen; Körperpflege; Verrichtung der Notdurft; Fortbewegung (im oder ausser Haus)/ Kontaktaufnahme (BGE 127 V 94 Erw. 3c; 125 V 297 Erw. 4a). Bei Lebensverrichtungen, die mehrere Teilfunktionen umfassen, ist nach der Rechtsprechung nicht verlangt, dass die versicherte Person bei der Mehrzahl dieser Teilfunktionen fremder Hilfe bedarf; vielmehr ist bloss erforderlich, dass sie bei einer dieser Teilfunktionen regelmässig in erheblicher Weise auf direkte oder indirekte Dritthilfe angewiesen ist (BGE 121 V 88 Erw. 3c; Urteile U 442/ 04 vom 25. April 2005 Erw. 1, H 163/04 vom 7. Juni 2005 Erw. 2.2.1 und I 296/05 vom 29. Dezember 2005 Erw. 2.2.2).

3.2 Artikel 37 IVV sieht drei Hilflosigkeitsgrade vor. Gemäss Abs. 1 dieser Bestimmung gilt die Hilflosigkeit als schwer, wenn die versicherte Person vollständig hilflos ist. Dies ist der Fall, wenn sie in allen alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf. Gemäss Art. 37 Abs. 2 IVV gilt die Hilflosigkeit als mittelschwer, wenn die versicherte Person trotz der Abgabe von Hilfsmitteln in den meisten alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist (lit. a) oder in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist und überdies einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf (lit. b) oder in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter und überdies dauernd auf lebenspraktische Begleitung im Sinne von Artikel 38 IVV angewiesen ist (lit. c). Nach der Rechtsprechung setzt Hilflosigkeit mittelschweren Grades nach Art. 37 Abs. 2 lit. a IVV eine Hilfsbedürftigkeit in mindestens vier alltäglichen Lebensverrichtungen voraus (BGE 121 V 88 Erw. 3b, 107 V 145 Erw. 2; KSIH Rz. 8009). Die Hilflosigkeit gilt als leicht, wenn die versicherte Person trotz Abgabe von Hilfsmitteln in mindestens zwei alltäglichen Lebensverrichtungen regelmässig in erheblicher Weise auf die Hilfe Dritter angewiesen ist (lit. a), einer dauernden persönlichen Überwachung bedarf (lit. b), einer durch das Gebrechen bedingten ständigen und besonders aufwendigen Pflege bedarf (lit. c), wegen einer schweren Sinnesschädigung oder eines schweren körperlichen Gebrechens nur dank regelmässiger und erheblicher Dienstleistungen Dritter gesellschaftliche Kontakte pflegen kann (lit. d), oder dauernd auf lebenspraktische Begleitung im Sinne von Art. 38 IVV angewiesen ist (lit. e) (Art. 37 Abs. 3 IVV).

3.3 Die zur Vornahme einer Lebensverrichtung benötigte Hilfe kann nicht nur in direkter Dritthilfe, sondern auch bloss in der Form einer Überwachung der versicherten Person bei der Vornahme der relevanten Lebensverrichtung bestehen. Hauptbeispiel indirekter Dritthilfe ist die Aufforderung einer Drittperson an den Versicherten, eine Lebensverrichtung vorzunehmen, die er wegen seines psychischen Zustandes ohne besondere Aufforderung nicht vornehmen würde. Indirekte Dritthilfe ist aber auch bei physischen Zuständen möglich; dies ist der Fall, wenn der Versicherte die alltäglichen Lebensverrichtungen zwar selber vornehmen kann, dabei jedoch – und nicht ganz allgemein – persönlich überwacht werden muss, z.B. wegen Erstickungsgefahr beim Essen, Ertrinkungsgefahr beim Baden oder Sturzgefahr bei der Fortbewegung. Die indirekte Dritthilfe ist von der dauernden persönlichen Überwachung zu unterscheiden, da sich letztere nicht auf die alltäglichen Lebensverrichtungen bezieht (Meyer/ Reichmuth, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 3. Auflage, Zürich/ Basel/ Genf 2014, S. 499, mit Hinweis auf BGE 133 V 450 Erw. 7.2). Gelegentliche Zwischenfälle der Hilfsbedürftigkeit können nicht zur Annahme einer Notwendigkeit regelmässiger Dritthilfe führen. Die Hilfe ist erst dann regelmässig, wenn sie die versicherte Person täglich oder eventuell (nicht voraussehbar) täglich benötigt (Urteil 8C_912/2008 vom 5. März 2009 Erw. 3.2.2)

3.4 Bei der Erarbeitung der Grundlagen für die Bemessung der Hilflosigkeit ist eine enge, sich ergänzende Zusammenarbeit zwischen Arzt und Verwaltung erforderlich. Der Arzt hat anzugeben, inwiefern die versicherte Person in ihren körperlichen und geistigen Funktionen durch das Leiden eingeschränkt ist. Die Versicherung ihrerseits nimmt weitere Abklärungen an Ort und Stelle vor. Bei Unklarheiten über physische oder psychische Störungen oder deren Auswirkungen auf die alltäglichen Lebensverrichtungen sind Rückfragen beim Arzt indes nicht nur zulässig, sondern notwendig (Urteil I 296/05 vom 29. Dezember 2005 Erw. 2.2.3). Für den Beweiswert eines von der Invalidenversicherung nach den Verwaltungsweisungen des Bundesamtes für Sozialversicherung eingeholten Abklärungsberichtes im Sinne der obigen Ausführungen sind nach der Rechtsprechung des Eidgenössischen Versicherungsgerichts verschiedene Faktoren zu berücksichtigen. Wesentlich ist, dass als Berichterstatterin eine qualifizierte Person wirkt, welche Kenntnis der örtlichen und räumlichen Verhältnisse sowie der aus seitens der Mediziner gestellten Diagnosen sich ergebenden Beeinträchtigungen und Hilfsbedürftigkeiten hat. Der Berichtstext muss plausibel, begründet und detailliert bezüglich der einzelnen, konkret in Frage stehenden Faktoren der Hilflosigkeit sein und in Übereinstimmung mit den an Ort und Stelle erhobenen Angaben stehen. Trifft all dies zu, ist der Abklärungsbericht voll beweiskräftig (vgl. BGE 130 V 61 Erw. 6.2). Das Gericht greift nur dann in das Ermessen der Abklärungsperson ein, wenn klar feststellbare Fehleinschätzungen vorliegen. Nicht erforderlich ist indes, den Bericht der versicherten Person zur Durchsicht und Bestätigung vorzulegen. Vielmehr genügt es, wenn dieser – zum Beispiel im Vorbescheidverfahren – die Gelegenheit zur vollen Akteneinsicht gewährt wird (vgl. BGE 130 V 61, mit Hinweisen). Randziffer 8133 KSIH sieht im Weiteren vor, dass die IV-Stelle bei wesentlichen Abweichungen zwischen behandelndem Arzt/ behandelnder Ärztin und Abklärungsbericht durch gezielte Rückfragen und unter Einbezug des RAD eine Klärung herbeizuführen hat.

3.5 Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich, so wird die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (Art. 17 Abs. 2 ATSG). Auch jede andere formell rechtskräftig zugesprochene Dauerleistung wird von Amtes wegen oder auf Gesuch hin erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben, wenn sich der ihr zugrunde liegende Sachverhalt nachträglich erheblich verändert hat (Art. 17 Abs. 2 ATSG). Die Erhöhung, Herabsetzung oder Aufhebung einer Hilflosenentschädigung gestützt auf Art. 17 Abs. 2 ATSG setzt demnach einen Revisionsgrund voraus. Darunter ist jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, u.a. die Verbesserung oder Verschlechterung des Gesundheitszustandes oder die Verwendung neuer Hilfsmittel, zu verstehen, die geeignet ist, den Grad der Hilflosigkeit und damit den Umfang des Anspruchs zu beeinflussen (vgl. Urteil 9C_882/2010 vom 25. Januar 2011 Erw. 1.1 mit Hinweisen). Eine erhebliche Sachverhaltsveränderung liegt vor, wenn sie eine Auswirkung auf den Leistungsanspruch hat, wobei die Änderung des Anspruchs nicht bloss geringfügig sein darf. Nicht verlangt ist, dass eine neue Diagnose gestellt wird; vielmehr reicht es aus, wenn eine Verschlechterung oder Verbesserung des auf die gleiche medizinische Ursache zurück zu führenden Gesundheitsschadens vorliegt. Dabei ist zu beachten, dass neue Elemente tatsächlicher Natur vorliegen müssen, welche nach der ursprünglichen Verfügung eingetreten sind und zum damals gegebenen Sachverhalt hinzugekommen sind oder diesen verändert haben. Eine bloss unterschiedliche Beurteilung eines im Wesentlichen gleich gebliebenen Gesundheitsschadens gehört nicht zu den im Revisionsverfahren massgeblichen, relevanten Änderungen (Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 2. Auflage, Zürich 2009, Art. 17 N 43 f. und 17, mit Hinweisen).

4. Die Beschwerdeführerin bezog bereits seit dem 1. Dezember 1979 Pflegebeiträge für hilflose Minderjährige, dies bei einer Hilflosigkeit mittleren Grades. Nach Erreichen der Volljährigkeit, d.h. seit 1. März 1988, sprach ihr die Beschwerdegegnerin eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit mittleren Grades zu, welche dann mit Wirkung ab 1. März 1993 auf eine Entschädigung bei Hilflosigkeit schweren Grades erhöht worden war. Diese wurde mit Verfügung vom 18. Dezember 2003 – nach Durchführung eines Revisionsverfahrens mit Abklärung vor Ort – bestätigt. Im Rahmen eines weiteren Revisionsverfahrens wurde am 21. Januar 2014 eine erneute Abklärung vor Ort vorgenommen. Gestützt auf den aktuelleren Abklärungsbericht verfügte die Beschwerdegegnerin dann am 23. April 2014, es bestehe nur noch eine Hilflosigkeit mittleren Grades, da die Versicherte in der Lebensverrichtung «Aufstehen/ Absitzen/ Abliegen» keine regelmässige Hilfe von Dritten mehr brauche. Der vorliegende Rechtsstreit dreht sich um die Frage, ob sich der Grad der Hilflosigkeit der Beschwerdeführerin seit dem 18. Dezember 2003 in anspruchsvermindernder Weise verändert hat, ob sie mithin in der Lebensverrichtung «Aufstehen/ Absitzen/ Abliegen» tatsächlich keiner Dritthilfe mehr bedarf. Hierzu ergibt sich aus den im Dossier liegenden Arzt- und Abklärungsberichten was folgt:

(...)

7.

7.1 Die Beschwerdegegnerin geht in der angefochtenen Verfügung vom 23. April 2014 davon aus, dass die Versicherte in fünf von sechs Lebensverrichtungen, d.h. beim An-/Auskleiden, Essen, bei der Körperpflege, beim Verrichten der Notdurft und bei der Fortbewegung auf regelmässige Dritthilfe angewiesen ist. Zudem benötige sie Hilfe bei der Pflege. Die Notwendigkeit einer dauernden Überwachung sei nicht ausgewiesen. Nachdem die Hilflosigkeit gemäss Art. 37 Abs. 1 IVV schon dann als schwer gilt, wenn die versicherte Person neben der Dritthilfe in allen sechs alltäglichen Lebensverrichtungen auch der dauernden Pflege oder der persönlichen Überwachung bedarf und die Beschwerdegegnerin das Kriterium der Notwendigkeit der dauernden Pflege bejahte, kann die von den Parteien aufgeworfene Frage, ob auch das Kriterium der persönlichen Überwachung erfüllt sei, dahingestellt bleiben. Streitig und nachfolgend zu prüfen ist aber, ob die Versicherte in der Lebensverrichtung «Aufstehen/Absitzen/Abliegen» auf Dritthilfe angewiesen ist. Dies wurde anlässlich der Abklärung im Jahr 2003 bzw. mit Verfügung vom 18. Dezember 2003 noch bejaht, während die Abklärungsperson bei der aktuellen Abklärung vom 21. Januar 2014 in dieser Lebensverrichtung gestützt auf die Aussagen der Betreuungsperson E keinen Hilfsbedarf mehr sah, was zur Folge hatte, dass die Beschwerdegegnerin in der Verfügung vom 23. April 2014 neu von einer mittelschweren Hilflosigkeit ausging.

7.2 Aus dem Abklärungsbericht vom 16. Mai 2003 geht hervor, dass man die Beschwerdeführerin gemäss Angaben der Wohngruppenleiterin F auffordern musste, das Bett zu verlassen und ins Bett zu gehen, ihr sagen musste, wann sie sich hinsetzen solle, und sie im Bett zudecken musste (oben Erw. 4.2). Die Eltern der Beschwerdeführerin gaben im Fragebogen vom 8. Januar 2014 an, ihre Tochter sei in allen Lebensverrichtungen ausser beim Aufstehen/Absitzen/Abliegen und bei der Fortbewegung auf Hilfe von Drittpersonen angewiesen (oben Erw. 4.3). Anlässlich der Abklärung vom 21. Januar 2014 gab die Betreuerin E zu Protokoll, der Gesundheitszustand habe sich seit der letzten Abklärung aufgrund der verminderten Sehkraft leicht verschlechtert. Die Beschwerdeführerin könne die Transfere (Aufstehen/Absitzen/Abliegen) seit Jahren selbständig, auch zielgerichtet, ausführen. Sie könne sich alleine an den Tisch oder zum Fernsehen oder Kaffee trinken auf die Polstergruppe setzen. Sie stehe alleine vom Bett auf, sei es morgens oder in der Nacht, und gehe anschliessend auch wieder selbständig zu Bett, ohne dass man sie anleiten oder auffordern müsse (oben Erw. 4.4). Hausarzt Dr. G erklärte im Bericht vom 4. März 2014, es bestehe eine sehr ausgeprägte Hilflosigkeit. Die Patientin könne zwar selber aufstehen und selber im Haus herumgehen, brauche aber für jeden gezielten Gang eine Begleitung bzw. eine individuelle Anleitung. Sie könne sich zum Beispiel nicht selber auf den Stuhl setzen und diesen dann zum Tisch rücken um zu essen (oben Erw. 4.5). Im Schreiben vom 22. Mai 2014 an den Rechtsanwalt der Beschwerdeführerin präzisierte E ihre am 21. Januar 2014 gemachten Aussagen dahingehend, dass die Beschwerdeführerin selbständig ins Bett gehe, beim Zudecken aber die Unterstützung einer Begleitperson brauche. Beim Absitzen auf das Sofa sei es auch schon vorgekommen, dass sie sich auf einen anderen Mitbewohner oder auf die schlafende Katze gesetzt habe. Um sich richtig am Tisch zu positionieren, bedürfe sie der Unterstützung einer Begleitperson (Erw. 4.6).

7.3 Aufgrund dieser Aktenlage sah sich das Gericht veranlasst, die Betreuerin E als Zeugin zu befragen. Dies namentlich weil auf die Aussagen der Eltern nicht abgestellt werden kann, da diese offensichtlich nicht wussten, dass auch indirekte Dritthilfe von Relevanz ist. Anderenfalls hätten sie im Fragebogen vom 8. Januar 2014 nicht angegeben, ihre Tochter brauche bei der Fortbewegung keine Unterstützung, ist doch ausgewiesen, dass sich die Versicherte ausserhalb der gewohnten Umgebung mangels Orientierung nicht selbständig fortbewegen kann. Die Angaben der Betreuungsperson sind im vorliegenden Fall von grösster Bedeutung. Allerdings geht aus dem Abklärungsbericht vom 21. Januar 2014 nicht hervor, welche Fragen der Betreuerin von der Abklärungsperson tatsächlich gestellt worden sind. Es ist mithin nicht klar, ob sich die Betreuerin darüber im Klaren war, dass auch die indirekte Dritthilfe – z.B. Aufstehen, Absitzen oder Abliegen auf Anweisung der Betreuerin – bei der Beurteilung der Hilflosigkeit eine Rolle spielt, es mithin nicht nur um den rein mechanischen Vorgang des Aufstehens, Absitzens oder Abliegens geht.

7.3.1 Die Zeugenbefragung vom 20. Januar 2015 hat zum Hilfsbedarf der Beschwerdeführerin in der Lebensverrichtung «Aufstehen/Absitzen/Abliegen» ergeben, dass diese rein mechanisch gesehen selbständig aufstehen, absitzen und abliegen kann, aber beispielsweise im Restaurant oder im Bus nicht auf die Idee kommt, sich hinzusetzen. Vielmehr bedarf es einer entsprechenden Anweisung einer Drittperson. Sodann ist es ihr nicht möglich, den Stuhl an den Tisch zu rücken, um zu essen. Am Abend – nachdem sie den Betreuerinnen durch Gähnen gezeigt hat, dass sie müde ist – wird sie jeweils zu Bett gebracht. Sie kann sich selbständig ins Bett legen, muss aber zugedeckt werden. Zudem muss ihr die Brille abgezogen werden. In der Nacht wird sie in der Regel von der Nachtwache zur Toilette gebracht, wenn der Alarm ausgelöst worden ist. Diese Angaben der Betreuerin E stimmen weitgehend mit den bereits im Abklärungsbericht vom 16. Mai 2003 gemachten Angaben überein. Die Wohngruppenleiterin F gab damals an, dass die Versicherte aufgefordert werden müsse, ins Bett zu gehen, das Bett zu verlassen oder sich hinzusetzen, und dass man sie zudecken müsse. Auch der Hausarzt Dr. G bestätigte einen entsprechenden Hilfsbedarf im ärztlichen Zeugnis vom 4. März 2014. In einem gewissen Widerspruch zu diesen Ausführungen der Betreuerin anlässlich der Zeugenbefragung stehen die im Abklärungsbericht wiedergegebenen Angaben, wonach die Beschwerdeführerin in der Nacht allein aufstehe, wenn sie aufs WC müsse, und anschliessend auch wieder selbständig zu Bett gehe, ohne dass man sie anleiten oder auffordern müsste.

7.3.2 Wie weit der Hilfsbedarf der Beschwerdeführerin in der Lebensverrichtung «Aufstehen/Absitzen/Abliegen» genau geht, muss vorliegend nicht geklärt werden. Aufgrund der Aussagen der Betreuerin E wie auch der übrigen Akten, und vor allem auch aufgrund der eigenen Beobachtungen des Gerichts anlässlich der öffentlichen mündlichen Verhandlung, steht fest, dass die Beschwerdeführerin in dieser Lebensverrichtung in beachtlichem Ausmass auf direkte und indirekte Dritthilfe angewiesen ist. Dass die Beschwerdeführerin, soll sie sich zielgerichtet – z.B. zum Essen oder im Bus – hinsetzen, entsprechend aufgefordert und angewiesen werden muss, dass ihr Stuhl jeweils durch die Betreuerin an den Tisch gerückt werden muss, dass sie Hilfe beim Ins-Bett-Gehen, namentlich beim Zudecken braucht, erscheint dem Gericht, nachdem es sich an der Verhandlung selbst ein Bild von der Beschwerdeführerin machen konnte, absolut plausibel. Es ist nicht davon auszugehen, dass sich der Hilfsbedarf der geistig schwer behinderten Beschwerdeführerin seit der letzten Abklärung im Jahr 2003 verringert hat, zumal die Situation seither aufgrund der verschlechterten Sehkraft eher problematischer geworden ist. Zu bemerken ist an dieser Stelle, dass die (doch eher vorwurfsvoll behaftete) Bemerkung der Abklärungsperson in ihrem Bericht vom 14. Januar 2014, wonach die Beschwerdeführerin nicht am Gespräch habe teilnehmen wollen, da sie nicht so lange habe ruhig sitzen wollen und lieber habe schauen wollen, was im Haus so los sei, in Anbetracht der Behinderung der Beschwerdeführerin als deplatziert erscheint.

In Würdigung sämtlicher Beweismittel bestehen keine ernsthaften Zweifel daran, dass die Beschwerdeführerin in der Lebensverrichtung «Aufstehen/Absitzen/Abliegen» weiterhin auf direkte und indirekte Dritthilfe angewiesen ist.

7.4 Da der Hilfsbedarf auch in den übrigen fünf alltäglichen Lebensverrichtungen ausgewiesen ist und die Beschwerdeführerin zudem dauernde Pflege benötigt – beides wird von der Beschwerdegegnerin nicht bestritten und in der angefochtenen Verfügung vom 23. April 2014 explizit bestätigt – steht fest, dass die Beschwerdeführerin weiterhin in schwerem Grade hilflos ist, die Voraussetzungen von Art. 37 Abs. 1 IVV für eine Hilflosenentschädigung bei Hilflosigkeit schweren Grades nach wie vor erfüllt sind.

(...)

8. Die Beschwerdegegnerin rügt, ihr Gehörsanspruch sei bei der öffentlichen mündlichen Verhandlung verletzt worden, da ihr das Plädoyer des beschwerdeführerischen Rechtsvertreters nicht in schriftlicher Form ausgehändigt worden sei. Dem ist zu entgegnen, dass für den Rechtsvertreter keinerlei Verpflichtung besteht, das mündlich erstattete Plädoyer anlässlich der Verhandlung auch in schriftlicher Form auszuhändigen. Der Rechtsvertreter hat sein Plädoyer auch nicht in derart schnellem Tempo vorgetragen, dass es der Vertreterin der Beschwerdegegnerin nicht mehr möglich war, gleichzeitig zuzuhören und Notizen zu ihrer Gegenargumentation zu machen. Hätte sich die Vertreterin zu Wort gemeldet und das Plädoyer in schriftlicher Form verlangt, wäre es ohne Weiteres möglich gewesen, die Verhandlung kurz zu unterbrechen und eine Kopie der dem Protokollführer ausgehändigten, schriftlichen Replik anzufertigen. Sodann hätte die Vertreterin auch einen Unterbruch der Verhandlung zur Vorbereitung ihrer Duplik verlangen können. All dies tat sie indes nicht. Es liegt keine Verletzung des Gehörsanspruchs der Beschwerdegegnerin vor.

9. Zusammenfassend hält die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 23. April 2014 der gerichtlichen Überprüfung nicht stand. Eine wesentliche Veränderung der Verhältnisse im Sinne einer Verbesserung der Hilfsbedürftigkeit der Beschwerdeführerin ist nicht ausgewiesen, weshalb sich die Reduktion der Hilflosenentschädigung als unrechtmässig erweist. Die Beschwerdeführerin hat weiterhin Anspruch auf eine Entschädigung wegen schwerer Hilflosigkeit bei Aufenthalt im Heim.

(...)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 19. März 2015 S 2014 68

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