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Gerichtspraxis

Staats- und Verwaltungsrecht

Sozialversicherungsrecht

Art. 37 Abs. 4 ATSG

Regeste:

Art. 37 Abs. 4 ATSG – Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung der bedürftigen Person droht, ist die Verbeiständung im Verwaltungsverfahren grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die gesuchstellende Person auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist (Erw. 4.2). Führt der Einwand der Rechtsvertreterin zum Vorbescheid dazu, dass die IV-Stelle eine polydisziplinäre medizinische Untersuchung als notwendig erachtet, sie mithin den Sachverhalt ergänzend medizinisch abklären lässt, kann nicht mehr gesagt werden, die anwaltliche Interessenwahrung im Vorbescheidverfahren sei nicht notwendig. In diesem Fall ist ein Grad der  Komplexität der Sache erreicht, der die Beistellung eines  unentgeltlichen Rechtsbeidstands rechtfertigt (Erw. 7.3).

Aus dem Sachverhalt:

Die Versicherte, Jahrgang 1966, musste ihren erlernten Beruf als Coiffeuse wegen einer seropositiven chronischen Polyarthritis Stadium I aufgeben. Gestützt auf ein MEDAS-Gutachten sprach die IV-Stelle der Versicherten mit Verfügung vom 9. Januar 2004 bei einem Invaliditätsgrad von 48 % mit Wirkung ab 1. November 2000 eine halbe Rente (Härtefallrente) zu. Im September 2017 meldete sich die Versicherte zwecks Rentenerhöhung unter Nachreichung neuer ärztlicher Berichte erneut bei der IV-Stelle an. Die IV-Stelle ihrerseits trat auf das Revisionsgesuch ein, wies das Erhöhungsgesuch schliesslich aber mit Vorbescheid vom 21. März 2018 mangels einer wesentlichen und leistungsrelevanten Veränderung des Gesundheitszustandes ab. Dagegen liess die Versicherte Einwand erheben und in diesem Zusammenhang unter anderem die Bestellung von RAin lic. iur. A als unentgeltliche Rechtsbeiständin beantragen. Mit Zwischenverfügung vom 20. November 2018 wies die IV-Stelle das Gesuch der Versicherten um unentgeltliche Rechtsverbeiständung ab mit der Begründung, es liege keine komplexe rechtliche oder tatsächliche Situation vor. Zudem hätte sich die Versicherte durch eine Verbands- oder Fürsorgevertreterin vertreten lassen können. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 27. November 2018 liess die Versicherte beantragen, die Verfügung vom 20. November 2018 sei aufzuheben und die Beschwerdegegnerin anzuweisen, die Unterzeichnende als unentgeltliche Rechtsvertreterin für das IV-Einwandverfahren zu bestellen. Mit Vernehmlassung vom 8. Januar 2019 beantragte die IV-Stelle Zug die vollumfängliche Abweisung der Beschwerde.

Aus den Erwägungen:

(…)

3. Strittig und zu prüfen ist der Anspruch der Beschwerdeführerin auf unentgeltliche Rechtsvertretung im Verwaltungsverfahren.

4.
4.1 Gemäss Art. 37 Abs. 4 ATSG wird der gesuchstellenden Person im Sozialversicherungsverfahren ein unentgeltlicher Rechtsbeistand bewilligt, wo die Verhältnisse es erfordern. Unentgeltliche Verbeiständung im Verwaltungsverfahren wird gewährt, wenn die Partei bedürftig ist, die Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheinen und die Vertretung im konkreten Fall sachlich geboten ist (vgl. Art. 29 Abs. 3 der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft vom 18. April 1999 [BV, SR 101]).

(…)

6. Strittig ist vorliegend die sachliche Gebotenheit einer anwaltlichen Vertretung. Falls ein besonders starker Eingriff in die Rechtsstellung der Bedürftigen droht, ist die Verbeiständung grundsätzlich geboten, andernfalls bloss, wenn zur relativen Schwere des Falls besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die Gesuchstellerin auf sich alleine gestellt nicht gewachsen ist.

(…) Vorliegend geht es nicht um eine angedrohte Aufhebung einer zuvor erteilten Leistung, sondern darum, zu klären, ob sich der Gesundheitszustand der Beschwerdeführerin seit der letzten materiellen Beurteilung verschlechtert hat. Somit kann bei dieser Sachlage nicht von einem drohenden starken Eingriff in die Rechtstellung der Beschwerdeführerin gesprochen werden.

7. Im Folgenden ist zu prüfen, ob es sich um einen komplexen Fall handelt, bei dem besondere tatsächliche oder rechtliche Schwierigkeiten hinzukommen, denen die Beschwerdeführerin, auf sich alleine gestellt, nicht gewachsen ist.

(…)

7.2 (…) Im vorliegenden Revisionsverfahren geht es darum, zu prüfen ob seit der letzten materiellen Beurteilung vom 9. Januar 2004 eine anspruchserhebliche Veränderung in den tatsächlichen Verhältnissen eingetreten ist. Dabei stand die Beschwerdeführerin vor der Schwierigkeit, die neuen medizinischen Abklärungen überprüfen und miteinander vergleichen zu müssen. Es mag zwar zutreffen, dass hierfür medizinische Kenntnisse und juristischer Sachverstand erforderlich sind. Über entsprechende Kenntnisse verfügen die versicherten Personen gemeinhin nicht. Trotzdem kann allein deswegen nicht von einer komplexen Fragestellung gesprochen werden, die eine anwaltliche Vertretung gebieten würde. Wie die Beschwerdegegnerin darauf hingewiesen hat, liefe die gegenteilige Auffassung darauf hinaus, dass der Anspruch auf unentgeltliche Rechtsverbeiständung in praktisch allen Revisionsverfahren bejaht werden müsste, müssen doch in allen Revisionsverfahren medizinische und/oder wirtschaftliche Sachverhalte verglichen werden. Mithin stellen sich in allen Revisionsverfahren Fragen zu den früheren Verfahren, den gestellten Diagnosen sowie zu den angerechneten Vergleichseinkommen. Der Beschwerdegegnerin ist somit zuzustimmen, dass diese grundsätzlichen Themen in Revisionsverfahren noch keine rechtsverbeiständungsrelevante Komplexität begründen können. Anders zu entscheiden würde der Konzeption von Art. 37 Abs. 4 ATSG als einer Ausnahmeregelung widersprächen.

Es bedarf mithin weiterer Umstände, welche die Sache als nicht (mehr) einfach und eine anwaltliche Vertretung als notwendig bzw. sachlich geboten erscheinen lassen (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_931/2015 vom 23. Februar 2016, Erw. 5.2 mit Hinweisen). Dies ist rechtsprechungsgemäss beispielsweise bei komplexen Fragen betreffend die Bemessung des Invaliditätsgrades (Urteil des Bundesgerichts 9C_316/2014 vom 17. Juni 2014, Erw. 3.2) oder einer langen Verfahrensdauer, insbesondere nach (mehrfachen) gerichtlichen Rückweisen (vgl. die Hinweise bei Ulrich Meyer/Marco Reichmuth, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 3. Auflage, Zürich 2014, Rz 10 zu Art. 57a) der Fall. Eine unentgeltliche Vertretung im Verwaltungsverfahren ist sodann geboten, wenn das in Frage stehende Verfahren besonders stark in die Rechtsposition der betroffenen Person eingreift, wie etwa bei namhaften Rückforderungen gegenüber in bescheidenen Verhältnissen lebenden Versicherten (Urteil des Bundesgerichts 9C_720/2013 vom 9. April 2014, Erw. 5.1 f.).

Was den vorliegenden Fall anbelangt, gilt es zu berücksichtigen, dass die ersten IV-Abklärungen auf das Jahr 1991 zurückgehen und die Akten dementsprechend auch eher umfangreich sind. Die Beschwerdeführerin verkennt jedoch, dass die ersten knapp 300 Seiten des Dossiers ausschliesslich die beantragten Umschulungsmassnahmen betreffen und sich die Frage der Rente erst im Jahr 2001 stellte. Nachdem der Beschwerdeführerin im Jahr 2004 gestützt auf das MEDAS-Gutachten vom 10. März 2003 basierend auf einem Invaliditätsgrad von 48 % eine Rente zugesprochen worden ist und sie im September 2017 ein Erhöhungsgesuch gestellt hatte, sah sich die Beschwerdeführerin zwar in der Situation, eine Verschlechterung ihres Gesundheitszustandes seit der Rentenzusprache von 2004, mithin über einen Zeitraum von 14 Jahren darzutun. Auch wenn also eine lange Zeitspanne zwischen der letzten materiellen Beurteilung und dem Revisionsgesuch lag, kann nicht von einer komplexen Fragestellung gesprochen werden, die eine anwaltliche Vertretung gebieten würde. Das medizinische Aktendossier seit dem Revisionsgesuch ist nämlich relativ schlank, enthält es doch gerade mal vier Arztberichte. Dementsprechend lässt der Umfang des Aktendossiers den vorliegenden Fall nicht überdurchschnittlich komplex erscheinen. Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin stellten sich auch keine komplexen Rechtsfragen betreffend das anzurechnende Valideneinkommen. Wie die Beschwerdegegnerin vernehmlassend zu Recht darauf hingewiesen hat, geht aus den Unterlagen nämlich klar hervor, welche Tätigkeit die Beschwerdeführerin vor Eintritt der Invalidität ausgeübt hat (Coiffeuse) und weshalb damals welches Valideneinkommen zur Berechnung des Invaliditätsgrades herangezogen wurde. Des Weiteren kann die Beschwerdeführerin aus dem Umstand, dass ihre Rechtsvertreterin schon im Verfahren betreffend erstmalige Rentenzusprache im Jahr 2004 involviert war, nichts zu ihren Gunsten ableiten.

Dementsprechend ist festzustellen, dass eine besondere Komplexität bis und mit Erhebung des Einwands nicht erkennbar ist.

7.3 Was den weiteren Verlauf des Verwaltungsverfahrens anbelangt, geht aus den Akten hervor, dass der Rechtsdienst der IV-Stelle eine polydisziplinäre Begutachtung verlangt und der RAD-Arzt die notwendigen Disziplinen bekannt zu geben hatte. Entsprechend wurde der Beschwerdeführerin am 21. Dezember 2018 mitgeteilt, dass eine umfassende medizinische Untersuchung (Allgemeine/Innere Medizin, Psychiatrie, Rheumatologie) notwendig sei. Wie die Beschwerdegegnerin vernehmlassend zu Recht darauf hingewiesen hat, vermag die Durchführung einer gutachterlichen Abklärung für sich allein die Notwendigkeit einer anwaltlichen Vertretung gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung nicht zu begründen, findet doch inzwischen in sehr vielen Fällen eine Begutachtung statt (vgl. Urteil des Bundesgerichts 8C_669/2016 vom 7. April 2017, Erw. 3.2). Es kann aber im vorliegenden Fall nicht ausser Acht gelassen werden, dass trotz Vorlegen neuer ärztlicher Berichte, welche eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin beschreiben und auf eine Änderung ihrer erwerblichen Situation hinweisen, lediglich zwei Stellungnahmen der RAD-Ärzte eingeholt und der negative Vorbescheid ohne weitere Abklärungen – welche bereits zu diesem Zeitpunkt indiziert gewesen wären – erlassen worden ist. Offensichtlich hat dann erst der Einwand der Rechtsvertreterin vom 4. April 2018 zum Vorbescheid vom 21. März 2018 dazu geführt, dass die IV-Stelle – nach entsprechender Sachstandserkundigung durch die Rechtsvertreterin am 12. November 2018 – gemäss Mitteilung vom 21. Dezember 2018 eine polydisziplinäre medizinische Untersuchung und somit weitere Abklärungen als notwendig erachtete. Führt aber die Intervention dazu, dass die Verwaltung den Sachverhalt ergänzend medizinisch abklären lässt, kann nicht mehr gesagt werden, die anwaltliche Interessenwahrung im Vorbescheidverfahren sei nicht notwendig (vgl. Ulrich Meyer/Marco Reichmuth, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum IVG, 3. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2014, Art. 57a Rz. 10 mit weiteren Hinweisen). Von einem durchschnittlichen Fall kann somit nicht mehr gesprochen werden. Indem der erhobene Einwand die Einholung eines polydisziplinären Gutachtens zur Folge hatte, mithin eine umfassende medizinische Abklärung erforderlich wurde, ist ein Grad der Komplexität der Sache erreicht, der die Beistellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistands rechtfertigt. Aufgrund der festgestellten Komplexität des Sachverhalts zielt schliesslich auch der Einwand der Beschwerdegegnerin ins Leere, dass sich die Beschwerdeführerin mit dem Beizug von Fach- und Vertrauensleuten sozialer Institutionen oder unentgeltlicher Rechtsberatungsstellen behelfen müsse.

7.4 Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Notwendigkeit der unentgeltlichen Rechtsverbeiständung vorliegend und im Lichte der dargelegten Judikatur ausnahmsweise zu bejahen ist. Angesichts dessen, dass die Beschwerdegegnerin eine Begutachtung als notwendig erachtete, kann auch nicht gesagt werden, die Rechtsbegehren der Beschwerdeführerin seien aussichtslos. Und nachdem das Gericht mit Verfügung vom 10. Dezember 2018 die unentgeltliche Rechtsverbeiständung für das Verwaltungsgerichtsverfahren bewilligt hat, herrscht auch Klarheit über die Bedürftigkeit der Beschwerdeführerin. Die angefochtene Verfügung vom 20. November 2018 ist daher aufzuheben und die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese die unentgeltliche Rechtsverbeiständung für die Zeit nach dem Einwandschreiben vom 4. April 2018 gewähre und zu gegebener Zeit die Entschädigung festlege. Damit erweist sich die Beschwerde als begründet, weshalb sie gutzuheissen ist.

(…)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 28. Februar 2019, S 2018 138
Das Urteil ist rechtskräftig.

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