Navigieren auf Kanton Zug

Gerichtspraxis

Staats- und Verwaltungsrecht

Sozialversicherungsrecht

Art. 37 Abs. 4 ATSG
Art. 41 ATSG und Art. 53 AVIG
Medizinische Massnahmen

Unfallbegriff

Regeste:

Art. 4 ATSG – Tritt beim Biss in eine heisse Grillwurst eine Zahnverletzung auf, stellt dies  mangels Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors kein Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG dar. Es gehört nämlich zu den allgemein bekannten Tatsachen, dass eine gegrillte Wurst heiss sein kann (Erw. 5.2.2)

Aus dem Sachverhalt:

Der Versicherte, B., geb. 1958, war bei der E. AG in C. angestellt und in dieser Eigenschaft bei der Suva gegen die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen versichert, als er sich am 10. Juni 2018 beim Biss in eine sehr heisse Grillwurst (Cervelat) am Zahn verletzte. Mit Schreiben vom 10. September 2018 resp. Verfügung vom 29. Oktober 2018 lehnte die Suva ihre Leistungspflicht erstmals ab, da die Beschwerden weder auf einen Unfall noch auf eine unfallähnliche Körperschädigung zurückzuführen seien. Die dagegen am 27. November 2018 erhobene Einsprache wies die Suva mit Entscheid vom 8. Februar 2019 ab und begründete dies im Wesentlichen mit dem Fehlen der Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors, sodass in casu kein Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG vorliege. Im Übrigen sei unbestritten, dass auch der Tatbestand von Art. 6 Abs. 2 UVG nicht erfüllt sei, weshalb sie keine Leistungspflicht treffe. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 8. März 2019 (Poststempel 9. März 2019) beantragte der Versicherte die Aufhebung des Einspracheentscheids sowie die Gewährung von Versicherungsleistungen. Mit Beschwerdeantwort vom 11. April 2019 beantragte die Suva die Abweisung der Beschwerde.

Aus den Erwägungen:

(…)

3.2
3.2.1 Erste Voraussetzung für die Leistungspflicht eines Unfallversicherers ist das Vorliegen eines Unfalls resp. einer unfallähnlichen Körperschädigung. Als Unfall gilt die plötzliche, nicht beabsichtigte schädigende Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors auf den menschlichen Körper, die eine Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit oder den Tod zur Folge hat (Art. 4 ATSG). Artikel 6 Abs. 2 UVG enumeriert abschliessend die Körperschädigungen, die, sofern sie nicht vorwiegend auf Abnützung oder Erkrankung zurückzuführen sind, auch ohne ungewöhnliche äussere Einwirkung Unfällen gleichgestellt werden. Aufgezählt werden a) Knochenbrüche, b) Verrenkungen von Gelenken, c) Meniskusrisse, d) Muskelrisse, e) Muskelzerrungen, f) Sehnenrisse, g) Bandläsionen und h) Trommelfellverletzungen. Überdies regelt Art. 9 UVG die Leistungspflicht des Unfallversicherers bei Berufskrankheiten resp. den Berufskrankheiten gleichgestellten Krankheiten.

3.2.2 Damit von einem Unfall ausgegangen werden kann, müssen sämtliche in der Legaldefinition nach Art. 4 ATSG enthaltenen Kriterien erfüllt sein. Mit dem ersten Kriterium der Plötzlichkeit wird ein zeitlicher Rahmen gesteckt und es wird eine Einwirkung während eines kurzen, abgrenzbaren Zeitraums verlangt. Dabei handelt es sich in der Regel um eine Zeitspanne weniger Sekunden (vgl. Ueli Kieser, ATSG-Kommentar, 3. Auflage, Zürich/ Basel/Genf 2015, Art. 4 Rz. 17 f.). Das Kriterium der Unfreiwilligkeit verlangt, dass die Folge des Ereignisses, die Körperschädigung, unbeabsichtigt eintritt (Kieser, a.a.O., Art. 4 Rz. 21 ff.). Mit dem Kriterium der Ungewöhnlichkeit sollen Unfälle von Ereignissen abgegrenzt werden, die im Rahmen des Alltäglichen eintreten. Auszuscheiden sind mithin die tausendfältigen kleinen und kleinsten Insulte des täglichen Lebens, die als solche gänzlich unkontrollierbar sind und deshalb nur beim Hinzutreten von etwas Besonderem Berücksichtigung finden können (Alfred Bühler, Der Unfallbegriff, in: Alfred Koller [Hrsg.], Haftpflicht- und Versicherungsrechtstagung 1995, St. Gallen 1995, S. 195 ff., insbesondere S. 234). Massgebend ist, dass das Ereignis das im jeweiligen Lebensbereich Alltägliche oder Übliche überschreitet. Dabei kann die Ungewöhnlichkeit auch in einer Programmwidrigkeit bestehen oder sich aus einem das Übliche überschreitenden Ausmass (z.B. ausserordentliche Kraftanstrengung) ergeben. Ungewöhnlich ist dabei nicht die Wirkung des betreffenden Faktors, sondern dieser selbst (BGE 122 V 230 Erw. 1). Die Praxis stellt neben objektiven Elementen auch auf subjektive Umstände wie Gewöhnung, Häufigkeit der Verrichtung etc. ab (Kieser, a.a.O., Art. 4 Rz. 34 ff.). Das Kriterium des äusseren Faktors gilt im Regelfalle schliesslich als erfüllt, wenn äussere, vom menschlichen Körper unabhängige Kräfte – praxisgemäss können aber auch körpereigene Bewegungen wie das Aufstehen aus der Hocke die schädigende äussere Einwirkung darstellen (vgl. BGE 129 V 466 Erw. 4.1) – auf diesen einwirken. In aller Regel wird es sich um eine mechanische Einwirkung handeln (Kieser, a.a.O., Art. 4 Rz. 60). Zwingende Folge dieses Zusammenspiels verschiedener Faktoren ist die Beeinträchtigung der körperlichen, geistigen oder psychischen Gesundheit.

(…)

5.
5.1 Im Folgenden ist der Frage nachzugehen, ob sich in casu am 10. Juni 2018 ein Unfall im Rechtssinne ereignete. Die Beschwerdegegnerin kam im angefochtenen Einspracheentscheid zum Schluss, es sei eine allgemein bekannte Tatsache, dass eine auf dem Grill zubereitete Wurst sehr heiss sein könne, weshalb es an der Voraussetzung der Ungewöhnlichkeit fehle. Dementsprechend sei kein Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG ausgewiesen.

5.2 Umstritten ist im vorliegenden Fall insbesondere das Element der Ungewöhnlichkeit. Wie in Erwägung 3.2.2 vorstehend dargelegt, bezieht sich das Merkmal der Ungewöhnlichkeit nicht auf die Wirkung auf den Körper, sondern auf den äusseren Faktor selbst. Es ist somit unerheblich, ob der äussere Faktor schwere und unerwartete Folgen nach sich zieht. Er gilt als ungewöhnlich, wenn er den Rahmen des im jeweiligen Lebensbereich Alltäglichen oder Üblichen überschreitet, was grundsätzlich nach objektiven Gesichtspunkten zu beurteilen ist.

5.2.1 Wie die Beschwerdegegnerin zutreffend darauf hingewiesen hat, erfüllt die Nahrungsaufnahme das Element der Ungewöhnlichkeit nur ausnahmsweise: Nämlich bei damit verbundenen rein mechanischen Vorkommnissen, so wenn man beim Essen von Fischen oder Geflügel eine Gräte oder einen kleinen Knochen verschluckt, wenn man sich mit der Gabel in die Lippe oder in die Zunge sticht, oder wenn man sich einen Zahn ausbeisst. Die Ungewöhnlichkeit ist bei Zahnschäden zu bejahen, die durch Gegenstände verursacht werden, welche üblicherweise nicht in dem betreffenden Nahrungsmittel vorhanden sind; im Weiteren bei der Einnahme von nicht essbaren (ihrer Natur nach giftigen) Stoffen anstelle von essbaren, d.h. bei Irrtum über die Sache selbst, beispielsweise bei Verwechslung von giftigen Pilzen mit essbaren, von Tollkirschen mit Heidelbeeren oder von Arsen mit Zucker. Dagegen fehlt das Merkmal der Ungewöhnlichkeit, wenn Speisen und Getränke trotz unverschuldeten oder erkennbaren Qualitätsmangels eingenommen werden und in der Regel auch dann, wenn der Irrtum lediglich die Qualität der Speisen betrifft (Alexandra Rumo-Jungo/André Holzer, Rechtsprechung des Bundesgerichts zum
Sozialversicherungsrecht, Bundesgesetz über die Unfallversicherung, 4. Auflage, Zürich/Basel/Genf 2012, S. 37).

5.2.2 Vorliegend ist in tatsächlicher Hinsicht davon auszugehen, dass der Beschwerdeführer am 10. Juni 2018 in eine für ihn unerwartet heisse Grillwurst (Cervelat) gebissen hat und in der Folge ein Zahnschaden aufgetreten ist. Dabei ist mit der Beschwerdegegnerin zunächst festzustellen, dass der Beschwerdeführer nicht einen in der Grillwurst befindlichen harten Gegenstand geltend macht, sondern einzig vorbringt, die Grillwurst sei für ihn unerwartet heiss gewesen. Es stellt sich somit die Frage, ob darin eine Ungewöhnlichkeit zu erblicken ist. Diesbezüglich ist noch einmal in Erinnerung zu rufen, dass im allgemeinen Ungewöhnlichkeit vorliegt, wenn das Ereignis das im jeweiligen Lebensbereich Alltägliche oder Übliche überschreitet. Dies ist vorliegend klarerweise zu verneinen. Beachtet man, dass der Beschwerdeführer im Rahmen der Replik selber ausführt, es liege in der Natur der Sache, dass eine Grillwurst heiss sein könne und jede Person dürfte in ihrem Leben bereits mehrfach die schmerzhafte Erfahrung gemacht haben, sich an einer heissen Speise zu verbrennen, so räumt er selber ein, dass eine vom Grill kommende Wurst eben gerade sehr heiss sein kann. Was daran ungewöhnlich sein soll, erschliesst sich dem Gericht nicht. Vielmehr ist mit der Beschwerdegegnerin noch einmal darauf hinzuweisen, dass es eben gerade eine allgemein bekannte Tatsache ist, dass eine Wurst, die auf dem Grill zubereitet wird, sehr heiss sein kann bzw. heiss sein soll, gehört es doch gerade zum Wesen einer Grillwurst, heiss zu sein. Wie die Beschwerdegegnerin sodann zutreffend darauf hingewiesen hat, ist ein aussergewöhnlicher Umstand, der die Ungewöhnlichkeit der heissen Grillwurst begründen könnte, ebenfalls nicht ersichtlich. Im Übrigen kann die Ungewöhnlichkeit auch nicht damit begründet werden, dass die heisse Wurstmasse eine Zahnschmelzfraktur zur Folge hatte, was ohne Zweifel darauf schliessen lasse, dass die Temperatur der Masse den Rahmen des Alltäglichen oder Üblichen massiv überschritten habe. Diesbezüglich gilt es nämlich zu berücksichtigen, dass sich die Ungewöhnlichkeit auf den äusseren Faktor selbst und nicht auf dessen Wirkung beziehen muss. Dies ergibt sich insbesondere auch aus dem vom Beschwerdeführer zitierten BGE 134 V 72 Erw. 4.3.1. Des Weiteren wird im genannten BGE darauf hingewiesen, dass ungewöhnliche Auswirkungen allein keine Ungewöhnlichkeit begründeten. Ohne Belang für die Prüfung der Ungewöhnlichkeit sei somit, dass der äussere Faktor allenfalls schwerwiegende, unerwartete Folgen nach sich gezogen habe. Dementsprechend ist mit der Beschwerdegegnerin festzustellen, dass von der Gesundheitsschädigung grundsätzlich kein Rückschluss auf die Ungewöhnlichkeit gezogen werden kann. Wendet der Beschwerdeführer dagegen ein, die Wirkung des ungewöhnlichen äusseren Faktors sei im Einzelfall durchaus beachtlich, ist ihm insofern Recht zu geben, als die Gesundheitsschädigung allenfalls erlaubt, Rückschlüsse auf die Ungewöhnlichkeit zu ziehen. Dies jedoch nur unter der Voraussetzung, dass die Gesundheitsschädigung typische Folge einer äusseren Einwirkung ist (BGE 134 V 72 Erw. 4.3.2.2). Dies ist vorliegend aber gerade nicht der Fall, weshalb die Ungewöhnlichkeit (des äusseren Faktors) im Lichte der konstanten höchstrichterlichen Rechtsprechung zu verneinen ist. Daran ändert im Übrigen auch das Vorbringen des Beschwerdeführers, es sei entgegen seiner ursprünglichen Schadensmeldung keine frische Zahnfüllung aus dem Zahn gebrochen, sondern er habe sich durch den thermischen Schock eine Zahnschmelzfraktur zugezogen, nichts. Wie die Beschwerdegegnerin diesbezüglich vernehmlassend darauf hingewiesen hat, hatte sie Kenntnis von der Untersuchung durch die behandelnde Zahnärztin, sodass die entsprechende Schilderung des Ereignisses auch in die Beurteilung miteingeflossen ist. Mithin liegen diesbezüglich keine neuen Umstände vor.

5.2.3 In Ermangelung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors verneinte die Beschwerdegegnerin deshalb zu Recht das Vorliegen eines Unfallereignisses im Sinne von Art. 4 ATSG. Ein Eingehen auf die übrigen Elemente gemäss Art. 4 ATSG erübrigt sich, da alle Elemente kumulativ erfüllt sein müssten, damit ein Ereignis als Unfall qualifiziert werden könnte.

6. Schliesslich ist es auch nicht zu beanstanden, dass die Beschwerdegegnerin das Vorliegen einer unfallähnlichen Körperschädigung im Sinne von Art. 6 Abs. 2 UVG verneint hat, fehlt es doch unbestrittenermassen an einer Listendiagnose gemäss Art. 6 Abs. 2 lit. a-h UVG. Weiterungen hierzu erübrigen sich somit.

7. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Ereignis vom 10. Juni 2018 von der Beschwerdegegnerin zu Recht weder als Unfall im Sinne von Art. 4 ATSG noch als unfallähnliche Körperschädigung im Sinne von Art. 6 Abs. 2 UVG qualifiziert wurde. Demzufolge erübrigt sich die Prüfung des natürlichen und adäquaten Kausalzusammenhangs. Damit entfällt aber eine Leistungspflicht der Beschwerdegegnerin, sodass sich die Beschwerde als unbegründet erweist und daher abzuweisen ist.

(…)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019, S 2019 46
Das Urteil ist rechtskräftig.

Weitere Informationen

Fusszeile

Deutsch