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Gerichtspraxis

Staats- und Verwaltungsrecht

Sozialversicherungsrecht

Art. 37 Abs. 4 ATSG
Art. 41 ATSG und Art. 53 AVIG

Medizinische Massnahmen

Regeste:

Art. 13 IVG, Art. 1 GgV,  Ziff. 425 Anhang GgV – Art. 13 IVG gewährt Versicherten bis zum vollendeten 20. Lebensjahr Anspruch auf die Behandlung ihrer Geburtsgebrechen. Soweit Rz. 425.2 KSME eine zeitliche Limitierung betreffend Feststellung der erforderlichen Symptome im Rahmen des Geburtsgebrechens Ziff. 425 Anhang GgV bis zum vollendeten 11. Lebensjahr enthält, erscheint dies als nicht gesetzeskonform (Erw. 5.1).

Aus dem Sachverhalt:

C., geb. 24. September 2006, wurde am 22. Februar 2018 von seinem Vater wegen einer Visusminderung links (Amblyopie bei Ametropie) bei der IV-Stelle Zug zum Bezug von IV-Leistungen für Minderjährige angemeldet. Beantragt wurden medizinische Massnahmen infolge eines Geburtsgebrechens. Mit Vorbescheid vom 11. Juni 2018 stellte die IV-Stelle die Abweisung des Leistungsbegehrens in Aussicht. Die Ablehnung wurde damit begründet, dass beim Versicherten erst nach dem vollendeten 11. Lebensjahr erstmals ein korrigierter Visuswert rechts von 0,1 [recte: 1,0] bzw. links von 0,2 gemessen worden sei und zudem nicht von einer Therapieresistenz ausgegangen werden könne, da vor dem 11. Lebensjahr keine Behandlung dokumentiert werde. Trotz erfolgtem Einwand der Arcosana AG, Krankenversicherer des versicherten Knaben, hielt die IV-Stelle mit Verfügung vom 26. November 2018 an der Ablehnung der Kostengutsprache für medizinische Massnahmen fest. Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde vom 10. Januar 2019 stellte die Arcosana AG den Antrag, die Verfügung vom 26. November 2018 sei aufzuheben und es seien medizinische Massnahmen im Rahmen des Geburtsgebrechens Ziff. 425 Anhang GgV zuzusprechen; alles unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zu Lasten der Beschwerdegegnerin. Mit Vernehmlassung vom 19. März 2019 beantragte die IV-Stelle die vollumfängliche Abweisung der Beschwerde.

Aus den Erwägungen:

(…)

3.2 In der Liste der Geburtsgebrechen (Anhang zur GgV) sind unter Abschnitt XVII. Sinnesorgane, lit. a, die das Auge betreffenden Geburtsleiden aufgeführt. Vorangehend wird für einige in den nachfolgenden Ziffern aufgelisteten Augenkrankheiten geregelt, dass, sofern die Anerkennung als Geburtsgebrechen von einem bestimmten Grad der Visusverminderung abhängig gemacht wird, der entsprechende Wert nach erfolgter optischer Korrektur massgebend ist. Ist der Visus nicht messbar und kann das betreffende Auge nicht zentral fixieren, so gilt ein Visus von 0,2 oder weniger. Diese Regelung betrifft auch das in Ziff. 425 aufgeführte Geburtsgebrechen (angeborene Refraktionsanomalien, mit Visusverminderung auf 0,2 oder weniger an einem Auge [mit Korrektur] oder Visusverminderung an beiden Augen auf 0,4 oder weniger [mit Korrektur]).

3.3 Das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) hat das Kreisschreiben (KSME) über die medizinischen Eingliederungsmassnahmen der Invalidenversicherung erlassen. Im 2. Teil (Die Leistungspflicht bei einzelnen Gebrechen und nach Art der Massnahmen), Kapitel 1.14, Rz. 411 - 428.1, sind die die Augenleiden betreffenden anerkannten Geburtsgebrechen bzw. Massnahmen konkretisiert. Gemäss Rz. 425.1 ist unter Ziff. 425 Anhang GgV ein Augenleiden einzureihen, wenn die Refraktionsanomalie (z.B. hoch-gradige Myopie, hochgradiger Astigmatismus) als Ursache der Sehschwäche bezeichnet wird. Die Behandlung ist prinzipiell bis zum vollendeten 11. Lebensjahr zu übernehmen. Liess sich der Visus bis zu diesem Zeitpunkt nicht oder nur unwesentlich verbessern, muss von einer Therapieresistenz ausgegangen werden. In diesen Fällen kann die IV Brillen und ophthalmologische Kontrollen auch nach dem vollendeten 11. Lebensjahr übernehmen, sofern die Visuskriterien zur Anerkennung eines Geburtsgebrechens weiterhin erfüllt sind, jedoch maximal bis zum vollendeten 20. Altersjahr (Rz. 425.2). Gemäss Rz. 425.3 ist dann, wenn medizinische Massnahmen über das vollendete 11. Lebensjahr beantragt werden und die Kriterien zur Anerkennung eines Geburtsgebrechens nicht mehr erfüllt sind, die Verlängerung zu begründen.

4. In casu ist unbestritten, dass beim Versicherten erstmals am 2. Februar 2018 die Diagnose einer hohen Hyperopie mit ametroper Amblyopie sowie eine Visusminderung links und fehlendes Stereosehen gestellt wurden. Gemäss Arztbericht vom 7. März 2018 wurde während der Untersuchung bei Dr. med. A., Fachärztin FMH für Augenkrankheiten, ein korrigierter Visuswert links von 0,2 gemessen und bei fehlendem Stereosehen seit Geburt und Hyperopie (Refraktionsanomalie) links das Geburtsgebrechen Ziff. 425 Anhang GgV bestätigt. Doktor A. merkte anamnestisch an, die verminderte Sehschärfe links sei bei der Schuluntersuchung sowie beim Kinderarzt aufgefallen. Die Visusminderung links und das fehlende Stereosehen bestünden seit Geburt und würden sich auf den Schulbesuch auswirken. Der Gesundheitszustand sei jedoch besserungsfähig und durch Brillenkorrektur und Okklusionstherapie könne eine spätere Eingliederung ins Erwerbsleben wesentlich verbessert werden. Dass beim Versicherten eine angeborene Refraktionsanomalie mit Visusminderung von 0,2 links im Sinne von Ziff. 425 Anhang GgV vorliegt, wird von der Beschwerdegegnerin denn auch in keiner Weise bestritten. Gleichwohl lehnt sie einen Leistungsanspruch ab und begründet dies gestützt auf Rz. 425.2 und 425.3 KSME damit, dass eine Behandlung des Augenleidens nach dem 11. Lebensjahr von der Invalidenversicherung nur verlängert, nicht aber erstmalig zugesprochen werden könne. Da der korrigierte Visuswert rechts von 0,1 [recte: 1,0] und links von 0,2 erstmals nach dem vollendeten 11. Lebensjahr festgestellt worden sei und vor dem 11. Lebensjahr keine Behandlung stattgefunden habe, bestehe kein Anspruch auf medizinische Massnahmen. Die Beschwerdeführerin stellt sich demgegenüber auf den Standpunkt, der Zeitpunkt der erstmaligen Erkennung des Geburtsgebrechens sei unerheblich und es bestehe zu Lasten der Beschwerdegegnerin bei entsprechender Begründung ein Behandlungsanspruch bis zum 20. Lebensjahr. Die Ablehnung des Behandlungsanspruches durch die Beschwerdegegnerin mit der Begründung, das vorliegende Geburtsgebrechen sei nicht vor dem vollendeten 11. Lebensjahr festgestellt worden, sei als zusätzliches und einschränkendes Anspruchserfordernis anzusehen, das weder auf Gesetzes- noch auf Verordnungsstufe verankert sei und zudem im Widerspruch zu Art. 13 IVG und 1 GgV stehe. Streitig ist somit einzig, ob das Geburtsgebrechen Ziff. 425 Anhang GgV bis zum 11. Lebensjahr entdeckt und therapiert worden sein muss bzw. ob eine erst nach dem 11. Lebensjahr festgestellte Refraktionsanomalie mit Visusminderung auch noch als angeborenes Leiden und folglich als Geburtsgebrechen gelten kann.

5.
5.1 In Würdigung der Rechtslage ist zunächst festzustellen, dass Art. 13 IVG den Anspruch auf notwendige medizinische Massnahmen bei Geburtsgebrechen bis zum vollendeten 20. Altersjahr gewährt. Artikel 1 Abs. 1 GgV hält sodann fest, dass der Zeitpunkt, in dem ein Geburtsgebrechen als solches erkannt wird, unerheblich ist. Wie die Beschwerdeführerin korrekterweise darauf hingewiesen hat, gelten bestimmte im Anhang aufgeführte Leiden indessen nur dann als Geburtsgebrechen, wenn die wesentlichen Symptome innerhalb eines bestimmten Zeitraums aufgetreten sind (Rz. 5 KSME). Anders als die entsprechenden Bestimmungen bezüglich der in Rz. 5 KSME aufgeführten Geburtsgebrechen sieht Ziff. 425 Anhang GgV keine zeitliche Limitierung betreffend Feststellung der erforderlichen Symptome vor. Mithin sehen weder Gesetz noch Verordnung eine Altersgrenze für das Vorliegen der erforderlichen Symptome oder der Diagnosestellung vor und es kann mit der Beschwerdeführerin festgestellt werden, dass es der fraglichen zeitlichen
Limitierung in formellem wie in materiellem Sinne an einer gesetzlichen Grundlage fehlt. Allerdings statuiert das KSME eine zeitliche Limitierung, indem eine Behandlung prinzipiell bis zum vollendeten 11. Lebensjahr zu übernehmen sei, mithin bis zu diesem Zeitpunkt ein unbegründeter Behandlungsanspruch besteht, während nachher die Bedingung erfüllt sein muss, dass sich der Visus nicht oder nur unwesentlich verbessert hat (Rz. 425.2 KSME). Diese Limitierung basiert gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung auf der Annahme, dass bei Kindern die Sehentwicklung im Alter von zehn bis zwölf Jahren abgeschlossen sei und eine Behandlung bis dann benötigt werde, damit die erreichte Sehkraft nicht wieder verloren gehe (vgl. Urteil des Bundesgerichts 9C_883/2014 vom 27. März 2015, Erw. 4). Gestützt auf Rz. 425.2 und 425.3 KSME leitet die Beschwerdegegnerin ab, die Behandlung des Geburtsgebrechens könne nach dem 11. Lebensjahr nur verlängert, nicht aber erstmalig zugesprochen werden. Das Geburtsgebrechen müsse mithin bis zum 11. Lebensjahr entdeckt und therapiert worden sein, ansonsten kein Anspruch auf medizinische Massnahmen bestehe. Dem ist entgegenzuhalten, dass eine absolut verstandene zeitliche Limitierung den normativen Anspruchsvoraussetzungen widerspricht, richtet sich der Behandlungsanspruch doch nach den Grundsätzen der Notwendigkeit, Geeignetheit resp. Zweckmässigkeit sowie Einfachheit. Des Weiteren ist die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu berücksichtigen, wonach strittige Verwaltungsweisungen zwar die Durchführungsorgane, nicht aber die Sozialversicherungsgerichte zu binden vermögen (BGE 130 V 163 Erw. 4.3.1, 129 V 200 Erw. 3.2, 127 V 57 Erw. 3a) und zusätzliche einschränkende materiellrechtliche Anspruchserfordernisse ohnehin nicht in Form von Kreisschreiben eingeführt werden können (BGE 129 V 67 Erw. 1.1.1, 109 V 166 Erw. 3b). Dementsprechend muss dem Gericht auch unter der Verwaltungsweisung die richterliche Prüfung vorbehalten bleiben, ob im konkreten Einzelfall ausnahmsweise auch bei Feststellung der Refraktionsanomalie mit Visusminderung nach dem 11. Lebensjahr erstmalig medizinische Massnahmen zugesprochen werden können. Dies gilt umso mehr, als gemäss Rz. 425.3 KSME sogar ein Behandlungsanspruch über das 11. Lebensjahr hinaus bestehen kann, wenn die Kriterien zur Anerkennung des Geburtsgebrechens nicht mehr vorliegen. Dementsprechend ist der Beschwerdeführerin zuzustimmen, dass medizinische Massnahmen erst recht nach dem 11. Lebensjahr gewährt werden müssen, wenn die Kriterien gemäss Ziff. 425 Anhang GgV weiterhin vorliegen. Dass die Gerichte nach bundesgerichtlicher Praxis nicht von den Verwaltungsweisungen abweichen sollten, solange diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellten und einer einzelfallgerechten Beurteilung nicht entgegenstünden, steht einem Abweichen von Rz. 425.2 und 425.3 KSME im Übrigen nicht entgegen, lässt das Kreisschreiben eine jedem Einzelfall gerecht werdende Sachbeurteilung eben gerade nicht zu. Ist eine Bindung des Gerichts ans genannte Kreisschreiben im Grundsatz zu verneinen, stellt sich noch die Frage, wie das Gesuch des Versicherten um medizinische Massnahmen konkret zu beurteilen ist.

5.2 Vorliegend ist unbestritten, dass beim Versicherten eine Visusminderung links von 0,2 und daraus resultierendes fehlendes Stereosehen besteht. Auch wenn die Diagnose erstmals erst am 2. Februar 2018, mithin nach Vollendung des 11. Lebensjahr des Versicherten, gestellt wurde, darf unter Berücksichtigung der Ausführungen von Dr. A. mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Sehschwäche bereits seit Geburt besteht. Dass das Augenleiden erst im Februar 2018 diagnostiziert wurde, ist gemäss unbestritten gebliebenen Ausführungen der Beschwerdeführerin vielmehr darauf zurückzuführen, dass der Versicherte davor gar nie augenärztlich abgeklärt wurde. Beim Versicherten besteht somit eine angeborene Refraktionsanomalie mit Visusminderung von 0,2 links, was dazu führt, dass die Kriterien gemäss Ziff. 425 Anhang GgV weiterhin vorliegen.

Was die Notwendigkeit der Behandlung des Augenleidens anbelangt, ist erneut auf den ärztlichen Bericht von Dr. A. vom 7. März 2018 zu verweisen. Doktor A. führt darin aus, dass sich die Visusminderung links und das fehlende Stereosehen auf den Schulbesuch auswirken würden. Der Gesundheitszustand sei besserungsfähig. Durch medizinische Massnahmen könne eine spätere Eingliederung ins Erwerbsleben wesentlich verbessert werden. Die Frage, ob der Versicherte Behandlung/Therapie benötige, beantwortete Dr. A. mit «ja» und merkte «Brillenkorrektur, Okklusionstherapie» an. Mit der Beschwerdeführerin ist somit festzustellen, dass beim Versicherten ein Geburtsgebrechen besteht, welches mittels medizinischen Massnahmen behandelt werden kann und behandelt werden muss. Die Notwendigkeit der Behandlung erscheint dementsprechend als durch den ärztlichen Bericht von Dr. A. erstellt. Dass eine Behandlung mittels Brillenkorrektur und Okklusionstherapie zu einer Visusverbesserung führen würde, gilt sodann als medizinische Erfahrungstatsache und ist auch vorliegend nicht in Abrede zu stellen. Dementsprechend erscheint eine Brillenkorrektur und Okklusionstherapie zur Behandlung einer angeborenen Refraktionsanomalie zweckmässig. Schliesslich spricht auch nichts gegen die gebotene Einfachheit der Massnahme. Unter diesen Umständen rechtfertigt es sich, im konkreten Einzelfall von der einschränkenden Formulierung gemäss KSME abzuweichen und die Rechtsauffassung der Beschwerdeführerin zu schützen, mithin dem Versicherten medizinische Massnahmen infolge des Geburtsgebrechens Ziff. 425 Anhang GgV zuzusprechen. Rechtfertigen sich medizinische Massnahmen, so erweist sich die Beschwerde aber als begründet und sie ist insofern gutzuheissen, als die Verfügung vom 26. November 2018 aufzuheben und das Vorliegen eines Geburtsgebrechens nach Ziff. 425 Anhang GgV zu bejahen ist.

(…)

Urteil des Verwaltungsgerichts vom 4. Juli 2019, S 2019 5
Das Urteil ist rechtskräftig.

 

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